Geschichte macht Estland und Finnland zu Europas PISA-Musterschülern

4. Dezember 2019 - 11:23

Estland hat Finnland bei der PISA-Studie 2018 als europäischer Musterschüler abgelöst. Als Grund sieht Bildungswissenschafter Stefan Hopmann von der Uni Wien die massiven Investitionen des 1,3-Millionen-Einwohner-Landes in die Digitalisierung des Unterrichts, was ihnen beim PISA-Test entgegenkomme. Der Status von Estland und Finnland hat auch kulturgeschichtliche Gründe, erzählte er der APA.

Bildungswissenschafter warnt vor Überbewertung der PISA-Ergebnisse
Bildungswissenschafter warnt vor Überbewertung der PISA-Ergebnisse

Noch vor drei Jahren hatten die 15- bis 16-jährigen Esten bei der Bildungsvergleichsstudie der OECD nur in den Naturwissenschaften die Nase leicht vorne, nun haben sie ihre finnischen Alterskollegen im OECD-Bildungsvergleich auch in Lesen und Mathematik um einige Punkte überholt. "Estland hat wie auch Polen in den vergangenen Jahren enorm viel hineingesteckt - nicht um ihr Schulsystem zu verbessern, aber PISA-fit zu werden", sagt Hopmann.

Das gute Abschneiden bei PISA hat laut Hopmann aber auch viel mit der Geschichte des Landes zu tun. "Schule hat dort schon immer, so ähnlich wie in Finnland, eine sehr starke Stellung." Zu Zeiten der russischen Herrschaft etwa seien Schule und Kirche die einzigen Bereiche gewesen, wo die Esten sie selber sein durften. "Wenn ich meine Identität nur in solchen Nischen erkaufen kann, sind sie sehr bedeutsam." Auch in Finnland konnte man nur in Schule und Kirche die finnische Identität ausleben, egal ob das Land gerade von Schweden oder Russland regiert wurde.

Nationale Identität über Bildung konstruiert

Als Vorbild für die österreichische Bildungspolitik taugt Estland aus Sicht des Bildungswissenschafters daher auch nur bedingt. "Die ganze nationale Identität war über Bildung konstruiert. Diese Kulturgeschichte kann man nicht nachahmen." Sehr wohl nachahmenswert ist für ihn allerdings grundsätzlich der Fördergedanke in dortigen Schulen. "In Estland wird ähnlich wie in Finnland die Qualität des Lehrers am schwächsten Schüler gemessen, nicht am besten."

Allerdings sei das im estnischen Schulsystem wegen der kulturellen und sozialen Trennmechanismen etwas komplizierter als in Finnland. Estland hat zwar - wie die meisten Länder der Welt - oberflächlich betrachtet ein Gesamtschulsystem. "Es ist aber nicht so, als würden alle Kinder in die selbe Schule gehen", so Hopmann. So werde in Estland unterschieden zwischen russisch und estnisch, "und mit der recht großen russischen Minderheit wird zum Teil leider ziemlich übel umgegangen". Zusätzliche Differenzierung gebe es etwa durch die Arbeit mit Leistungsgruppen.

Überhaupt warnt Hopmann davor, die PISA-Ergebnisse überzubewerten. "Das Ergebnis sagt ja nichts über die Qualität von Schule, nicht einmal über die Qualität des Mathematik-Wissens."

Finnen kämpfen mit Leistungsdruck und schlechtem Schulklima

Den Finnen, die ihren PISA-Spitzenplatz viele Jahre massiv für Eigenwerbung genutzt haben, ist die Studie laut Hopmann übrigens mittlerweile nicht mehr wichtig. Dort kämpfe man nun vielmehr damit, dass der Leistungsdruck zu einer drastischen Verschlechterung des Schulklimas geführt hat, erzählt Hopmann. "In den kommenden Jahren soll deshalb wieder ein Schwerpunkt auf eine Öffnung des Unterrichts und mehr Kultur gelegt werden - auch wenn sie davon ausgehen, dass sie das bei den PISA-Ergebnissen beschädigen wird".

Und wie beurteilt der Experte Österreichs mittelmäßiges Abschneiden? Die Stärken des österreichischen Schulsystems lägen eben woanders als bei den in PISA abgefragten Kompetenzen, sagt Hopmann mit Verweis auf das berufsbildende Schulsystem, die geringe Zahl an Dropouts und die geringe Jugendarbeitslosigkeit.

Zu tun gäbe es aus seiner Sicht trotzdem genug, etwa die Abschaffung des "blödsinnigen Systems ein Lehrer - ein Fach - eine Klasse. Das ist gut für das Mittelmaß, lässt aber sowohl die Leistungsstärkeren als auch die Schwächeren im Stich". Handlungsbedarf sieht er vor allem bei den leistungsschwächsten 20 Prozent. Wenn man diesen helfen wolle, müsse man aber auch Geld für deren Förderung in die Hand nehmen - und nicht für flächendeckende Maßnahmen wie das Pflichtkindergartenjahr, die Neue Mittelschule oder die Zentralmatura, "von denen man vorher wissen konnte, dass sie weder die Leistung steigern noch die soziale Gerechtigkeit verbessern".

(APA/red, Foto: APA/APA (Punz))

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