Mit einem eindringlichen Appell haben sich Wissenschafter an heimische und europäische Politiker gewandt. Die dramatische Situation in Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln sei der "traurige Beweis", dass Hilfe vor Ort nicht funktioniere. Die Politik müsse rasch handeln, "solange ein drohender Kontrollverlust" an den EU-Außengrenzen noch abgewendet werden könne, heißt es in einer Aussendung des Wissenschaftsnetzwerks Diskurs.
Die Forscher von Uni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Med Uni Wien fordern deshalb eine "sofortige Evakuierung" der griechischen Lager und eine "geordnete, koordinierte, regulierte" Aufnahme von Geflüchteten in Österreich. Die Frage spaltet bisher die Bundesregierung: Während sich die Grünen dafür aussprechen, stellt sich die ÖVP gegen die Forderung nach einer Aufnahme von Schutzbedürftigen.
Moria ist "bewusst produzierte Katastrophe"
Hilfe vor Ort alleine sei unmenschlich und erhalte genau jene Strukturen aufrecht, die "ursächlich für den Brand in (dem Flüchtlingscamp, Anm.) Moria waren: chronische Überfüllung, lange Aufenthaltsdauer, fehlende Perspektiven, unzureichende Unterbringung und Versorgung", erklärte der Politikwissenschaftler Alexander Behr. Moria sei somit "keine überraschende, sondern eine bewusst produzierte Katastrophe", hieß es in der Aussendung. Durch die untragbaren Umstände in den Flüchtlingscamps werde laufend die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.
Dass die Aufnahme von Geflüchteten einen Pull-Faktor darstelle, wie von der ÖVP als Begründung für ihre Ablehnung angeführt wird, sei aus wissenschaftlicher Sicht falsch, erklärte der Historiker Philipp Ther. Flüchtlingsströme würden vor allem durch lebensbedrohliche Umstände in den Herkunftsländern beeinflusst. Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik sei "schädlich für das politische Klima und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland sowie für das Renommee im Ausland", betonte Ther.
Situationsverbesserung sei nicht zu erwarten
Experten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) würden seit Monaten vor den "Konsequenzen der ungelösten EU-Migrations- und Asylpolitik" warnen, jahrelang hätten Griechenland, die EU und ihre Mitgliedstaaten es verabsäumt, auf den griechischen Inseln für menschenwürdige Zustände zu sorgen. Dass die im von der EU-Kommission präsentierten Migrationspakt enthaltenen Vorschläge wie etwa wie "Rückführpatenschaften" und "flexible Solidarität" die Situation auf Lesbos verbessern werden, sei nicht zu erwarten, erklärte Judith Kohlenberger, Migrations- und Fluchtforscherin an der Universität Wien.
Die Diskursforscherin Ruth Wodak kritisierte, dass Flüchtende, Asylwerber und Migranten in Medien und in der politischen Kommunikation "zu Unrecht" oft als "illegale Migranten" dargestellt würden. Dies sei "bewusste Desinformation" und würde die Faktenlage "signifikant" verzerren. Die Einreise per se sei nicht illegal, wenn sich ein Flüchtling umgehend bei den Behörden melde, berief sich Wodak auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). "Nur bei Ablehnung des Asyl-Ansuchens halten sich diese Menschen daher tatsächlich illegal in einem Land auf."
Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak beanstandete den Verstoß der EU gegen das in der GFK festgehaltene Prinzip der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip), wonach Geflüchtete an der Grenze das Recht auf Einreise und Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren, also einem Asylverfahren, haben. In den vergangenen Monaten hatten sich Berichte über sogenannte "Pusbacks" an den Grenzen gehäuft. Auch an der österreichisch-slowenischen Grenze soll es zu Zurückweisungen und in der Folge zu Kettenabschiebungen bis nach Bosnien-Herzegowina gekommen sein.
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