Als "blinden Fleck in der Armutsforschung" bezeichneten Expertinnen die tatsächliche Situation rund um Armutsgefährdung bei Frauen vor Journalisten. Sehe man sich das Thema - wie üblich - auf Basis des Haushaltseinkommens an, erscheinen höchstens um die 15 Prozent der Frauen in Österreich armutsgefährdet. Blicke man aber isoliert auf die Einkommenssituation von Frauen mit Kindern, steige dieser Wert auf etwa 50 Prozent, so Christina Siegert von der Uni Wien.
Die Forscherin vom Institut für Soziologie hat in einer momentan im Begutachtungsprozess durch Fachkollegen befindlichen Studie untersucht, ob das Einkommen von Menschen in Paarbeziehungen auch vor Armut schützt, wenn die Partner alleine betrachtet werden. Denn bei einer Trennung werden die Ex-Partner wirtschaftlich meist auf sich selbst zurückgeworfen. Das schlage vor allem bei Paaren mit Kindern stark durch, da hier die Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau besonders ausgeprägt sind.
Aus Eurostat-Daten aus den Jahren 2016 bis 2019 errechnete Siegert Armutsgefährdungsrisiken unter verschiedenen Voraussetzungen - mit erstaunlichen Unterschieden: Ging man in Österreich vom gemeinsamen Haushaltseinkommen aus, lag das Risiko zwischen zehn und 16 Prozent, unabhängig vom Geschlecht und dem Bildungsgrad. Schaute die Wissenschafterin aber auf das individuelle Einkommen der beiden Partner - berücksichtigt wurden heterosexuelle Paarhaushalte - ging die Schere massiv auf, wie Siegert in dem vom Wissenschaftsnetz "Diskurs" organisierten Pressegespräch erklärte.
"Frauen haben demnach ein deutlich höheres Armutsrisiko als ihre Partner, insbesondere in Anwesenheit von Kindern: Abhängig vom Bildungsgrad sind 42 Prozent bzw. 59 Prozent der Mütter in Paarhaushalten (ersterer Wert gilt im wesentlichen für Frauen mit Hochschulstudium, Anm.) auf Basis ihres Personeneinkommens armutsgefährdet", heißt es in den Unterlagen. Im Vergleich dazu errechnete die Forscherin für Väter unabhängig vom Bildungsgrad einen Armutsgefährdungs-Wert von lediglich neun Prozent.
Gemeinsames Einkommen verschleiert Risiko
Der Blick auf das gemeinsame Einkommen verschleiere also das tatsächliche Risiko ein erhebliches Stück weit. "Die Unterschiede zwischen Partnern werden ignoriert", sagte Siegert. Während Männer "Armut ganz gut auf Basis von ihrem Personeneinkommen vermeiden können", offenbaren sich viele Hinweise auf Abhängigkeiten bei Frauen und vor allem Müttern. Im internationalen Vergleich sei dies etwas "sehr Österreichisches".
Um sich vor allem als Frau gegenüber Armutsgefährdung, Altersarmut und Abhängigkeit zu wappnen, höre man seitens der Politik oft das Argument, doch mehr Stunden in Erwerbsarbeit zu verbringen. Das greife aber zu kurz, zeigte sich die aktuell beim britischen Thinktank "Southern African Social Policy Research Insights" (SASPRI) tätige österreichische Forscherin Katrin Gasior überzeugt. Das Bild der "Arbeit als 'Heiliger Gral', der alles regelt", halte vielfach nicht - schon alleine wegen weiter bestehender Geschlechterunterschiede bei der Entlohnung (Pay-Gap).
Man müsse in der Sozialpolitik die unterschiedlichen Lebensrealitäten stärker ins Auge fassen. Auch Gasior hat mit ihren Kolleginnen Silvia Avram und Daria Popova in einer als "Arbeitspapier" vorliegenden Analyse mit neuen Methoden das individuelle Risiko berechnet. Für Österreich zeige sich, dass selbst bei Vollzeitbeschäftigten erhebliche Unterschiede bestehen: Während das Armutsrisiko bei Männer bei sechs Prozent liegt, sind es bei Frauen elf Prozent.
Ein Drittel der Frauen gefährdet
Ihren Berechnungen zufolge könnten rund ein Drittel der Frauen zudem mehr oder weniger über Nacht in Richtung Armutsgefährdung abdriften, wenn ihr Partner plötzlich wegfallen und Sozialleistungen nicht greifen würden, sagte Gasior. Standarddefinitionen von Armut würden also die prekäre Situation vieler Frauen verschleiern.
Mit der Forderung "Leute, geht mehr arbeiten", der vor allem viel Pflege- und Sorgearbeit verrichtende Frauen kaum nachkommen können, würden es sich viele Akteure und Kommentatoren in der Sozialpolitik viel zu einfach machen. Der Blick auf das Armutsrisiko müsse deutlich geschärft werden, so die beiden Wissenschafterinnen.
Service: Das Arbeitspapier online: https://go.apa.at/pIM38X1O
(APA/red, Foto: APA/APA/BARBARA GINDL/BARBARA GINDL)