Wissenschaftsstreit um Einsatz von Botox gegen Depressionen

20. Juli 2021 - 8:59

Könnte man Depressionen - ausgerechnet mit Botox - "wegspritzen", wäre das wohl ein Hit. Studien und deren Auswertungen dazu sind jetzt zu einem internationalen Wissenschafterstreit eskaliert. Die heiße Frage: Können beseitigte Stirnfalten eine Therapie gegen eine psychiatrische Erkrankung sein? Daneben geht es um den Wert von sogenannten Meta-Analysen, also Zusammenfassungen und gepoolten Auswertungen bereits vorhandener Studien.

Können beseitigte Stirnfalten eine Therapie gegen Depressionen sein?
Können beseitigte Stirnfalten eine Therapie gegen Depressionen sein?

"Die Weltgesundheitsorganisation schätzt die Zahl der Menschen, die an Depressionen leiden, auf mehr als 264 Millionen. Die derzeit verwendeten Therapeutika (z.B. Serotonin-Reuptake-Hemmer, Dopamin-Norepinephrin-Reuptake-Hemmer etc.) sind bei fast einem Drittel der Patienten unwirksam", schrieben Tigran Makunts von der Skaggs School of Pharmacy (Universität von Kalifornien/San Diego) und seine Co-Autoren 2019 in der Wissenschaftszeitschrift "Scientific Reports". Während ihrer Lebenszeit erkranken acht bis zwölf Prozent der Menschen zumindest einmal an einer Depression. Jede zusätzliche Hilfe wäre wünschenswert.

Die US-Experten fanden jedenfalls in einer pharmaepidemiologischen Beobachtungsstudie Hinweise auf eine Wirksamkeit von Botulinumtoxin (auch) gegen Depressionen. "Die Forscher werteten die Daten von mehr als 40.000 Personen in einer Datenbank der US-Zulassungsbehörde FDA aus, die Botulinumtoxin zur Behandlung von Hyperhidrosis (extremes Schwitzen; Anm.), Gesichtsfalten, zur Migräneprophylaxe und bei Spastizität (Lähmungen; Anm.) erhalten hatten", hieß es dazu in der deutschen Pharmazeutischen Zeitung vor einigen Tagen. Eine mögliche Wirkung von Botulinumtoxin im Gehirn selbst wäre auch möglich.

In "Scientific Reports" hatten die US-Wissenschafter beispielsweise bei Patienten mit kosmetischer Behandlung per Botox wegen Gesichtsfalten von um 56 Prozent selteneren Depressionen berichtet. In der Migräneprophylaxe war die Häufigkeit um 40 Prozent geringer als ohne Verwendung Botox, nach einer solchen Behandlung gegen Lähmungen an Armen/Händen gar um 72 Prozent seltener.

Weitere Untersuchungen benötigt

Die US-Wissenschafter schrieben in ihrer Studie allerdings klipp und klar, dass es zur Bestätigung solcher Beobachtungsergebnisse neuer Untersuchungen mit Placebokontrolle bedürfe, die von vornherein für Bestimmung eines möglichen Effekts von Botulinumtoxin auf die Psyche geplant werden. Schon hier stößt man allerdings automatisch an Grenzen: Wer sich Botulinumtoxin injizieren lässt verspürt natürlich sofort eine Wirkung, zum Beispiel die Entspannung von Muskelgruppen, das Glätten von Gesichtsfalten. Damit ist eine Placebo-Kontrolle schwierig.

Nun liegen bereits einige klinische Untersuchungen vor, zum Teil auch mit versuchter Placebogruppe (Kochsalzlösung). Im März dieses Jahres trat die Diskussion in ein neues Stadium. Jara Schulze von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und ihre Co-Autoren publizierten im "Journal of Psychiatric Research" eine sogenannte Meta-Analyse. Sie fassten fünf vorhandene klinische Studien zur Verwendung von Botox und Depressionen zusammen und werteten die Daten noch einmal aus. Fazit der deutschen Fachzeitschrift: Die Botulinumtoxin-Injektionen hätten einen mehr als doppelt so starken antidepressiven Effekt wie die sonst üblichen Antidepressiva.

Das glauben US-Wissenschafter keinesfalls. Nicholas Coles von der Stanford University (Kalifornien) hatte nämlich bereits 2019 eine ähnliche Meta-Analyse zu Botox und Depressionen bzw. den klinischen Studien durchgeführt und in "Emotion Review" veröffentlicht. Bis auf eine der verwendeten Studien hatten die Experten die gleichen wissenschaftlichen Arbeiten wie die deutschen Experten noch einmal analysiert. Sie kamen zu einem ganz anderen Ergebnis: Jede der Studien sei mit weniger als hundert Teilnehmern klein gewesen. Die Placebo-Kontrolle könne wegen der eindeutigen Effekte von Botox nicht funktioniert haben. Und schließlich: Vier der fünf Studien seien vom Botox-Hersteller finanziert worden.

Die Wahrheit wird sich wohl erst mit weiteren Untersuchungen herausstellen. All zu gerne hätten jedenfalls die Verfechter einer "Facial-Feedback-Hypothese" (Gesichtsmimik-Feedback-Hypothese; Übers.), dass die behauptete positive Wirkung von Botox auf Depressionen stimmt. Die Hypothese lautet im Endeffekt, dass bestimmte Bewegungen der Gesichtsmuskeln die Emotionen des Betroffenen beeinflussen. Ob das mit Botox besser als mit Entspannungstraining erfolgt und ob daran überhaupt große Erwartungen zu knüpfen sind, ist nicht klar.

Wie zuverlässig sind Meta-Analysen?

Die zweite kritische Frage ist allerdings auch an die Methodik der Meta-Analysen zu stellen, die in der Medizin dazu verwendet wird, durch die Auswertung größerer Datenmengen mehr Sicherheit über Aussagen und Schlussfolgerungen zu erhalten. Wenn zwei Meta-Analysen unter Verwendung fast der gleichen Studien zu konträren Ergebnissen kommen, spricht das auch nicht wirklich für die Methodik. Sie wird auch häufig im sogenannten Health Technology Assessment (HTA; Technologie-Nutzenbewertung) verwendet.

(APA/red, Foto: APA/APA/dpa/Peer Grimm)

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