Wie wenige Firmen ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen könnten

16. Mai 2022 - 10:23

Können produzierende Unternehmen ihre Funktion nicht mehr erfüllen, kann das aufgrund verflochtener Lieferketten mitunter weitreichende Konsequenzen für eine gesamte Volkswirtschaft haben. Am Beispiel Ungarns zeigen Wiener Komplexitätsforscher, dass dort nur 100 von 91.000 analysierten Unternehmen 75 Prozent des systemischen Risikos tragen. Das zeige, dass, ähnlich wie im Finanzsektor, Ausfälle von nur wenigen Akteuren weitreichende Folgen haben können.

Seit der Finanzkrise 2008/2009 galten vor allem Banken als systemrelevant
Seit der Finanzkrise 2008/2009 galten vor allem Banken als systemrelevant

Für ihre Untersuchung im Fachmagazin "Scientific Reports" - die laut den Autoren die erste ist, die eine ganze Volkswirtschaft als Netzwerk abbildet - konnten die Forscher um Stefan Thurner und Christian Diem vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) auf Daten der ungarischen Zentralbank zurückgreifen. Die Analyse umfasst die Mehrwertsteuerflüsse "fast aller produzierender Unternehmen in Ungarn" im Jahr 2017, wie Thurner im Gespräch mit der APA erklärte. Sobald es zwischen den Firmen zu nennenswerten Geldflüssen kam, ist dies in den Daten erfasst. Diese wurden in Zusammenarbeit mit dem Physiker András Borsos von der ungarischen Zentralbank ausgewertet, sämtliche Lieferbeziehungen rekonstruiert und für eine Simulation aufbereitet.

Darin konnten die Forscher dann einen Akteur nach dem anderen aus dem riesigen Lieferketten-Netzwerk herausnehmen, "und dann schauen, was passiert". Dabei zeigte sich, dass den inneren Kreis des Netzwerks lediglich 32 "Hochrisiko"-Firmen bilden. Fällt eine von diesen 0,035 Prozent der Unternehmen aus, hat das den Berechnungen zufolge größte negative Auswirkungen auf 23 Prozent von Ungarns Wirtschaft. "Dass das so wenige Firmen sind, hat uns sehr überrascht", so Thurner. Rund ein Viertel Reduktion der Wirtschaft bei einem Ausfall in dieser Gruppe sei weit mehr als die gesamten Sanktionen bisher in Russland ausgelöst haben. "Das ist ein wahnsinnig großes Risiko", das etwa von diesen 32 Firmen ausgeht.

Kein Risiko durch die allermeisten Unternehmen

Erweitert man diese Gruppe weiter auf die 100 im Wirtschaftsnetz zentralsten Firmen, stehen diese für drei Viertel des Risikos im System. Danach fallen die Werte rapide ab. Das heißt, dass vom allergrößten Teil der 91.000 Unternehmen kaum Risiko für einen System-Kollaps ausgeht.

In der Hochrisikogruppe seien aber nicht nur besonders große Unternehmen enthalten, so der CSH-Chef. Auch kleinere Unternehmen, die etwa hochkritischen Firmen zuliefern, zählen dazu. Daher gehe es hier auch nicht nur um Firmen, die für sich in Anspruch nehmen könnten, zu groß zum Scheitern zu sein und damit etwa Druck auf die Politik ausüben. "Das 'too big to fail' löst sich hier auf. Kleine können gleich 'gefährlich' sein, wie große Spieler", betonte Thurner.

Für Österreich schätzt der Forscher die Risikokonzentration nicht so hoch ein wie in Ungarn. Hierzulande habe das Wirtschaftssystem mehr Zeit zum Wachsen gehabt, was eher zu gleichmäßiger verteilten Gefahren und mehr Vernetzung führe. Aber auch ein Ausfall aus der Gruppe der 50 zentralen Firmen könnte hier in etwa 20 Prozent der Wirtschaftsleistung stark beeinträchtigen.

Letztlich könne man mit der neuen Methode analysieren, welche Firmen ein Land tunlichst nicht verlieren sollte. So ließen sich systemisches Risiko in gefährdete Arbeitsplätze über die Firma selbst hinaus umrechnen und damit besonders "sozial relevante Unternehmen" festmachen.

Analyse in Österreich nicht machbar

In Österreich kann man so eine Analyse auf Basis von Steuerdaten jedoch nicht durchführen, da im Gegensatz zu Ungarn nicht systematisch erhoben wird, an wen die Mehrwertsteuer fließt, sondern nur wie viel vom jeweiligen Steuerpflichtigen bezahlt wurde. Die Information sei in Österreich aber durchaus vorhanden, bedauert Thurner. Dessen Vision, mehr oder weniger das ganze Wirtschaftssystem abzubilden, um die Schwachstellen der Wirtschaft erkennen zu können, würde damit einen größeren Schritt näher rücken.

Mit so einer Simulation könnte man jedenfalls sehr konkrete Fragen präzise und rasch beantworten - so etwa zur derzeitigen globalen Lieferkettenproblematik. Man könnte aber beispielsweise auch beantworten, wer die Zulieferer eines Landwirtschaftsbetriebes sind, in dem eine Tierseuche ausgebrochen ist. Dazu kämen Fragen zur sozial halbwegs verträglichen Reduktion von CO2-Emissionen in der Industrie oder zu Auswirkungen von Gasimport-Stopps sowie Pandemieauswirkungen. Auch könne man so analysieren, wie das geplante Lieferkettengesetz tatsächlich sinnvoll eingeführt werden könnte oder wer alles unter den Folgewirkungen eines Stopps der heimischen Papierindustrie leiden würde. "Die Abhängigkeiten werden einem dann blitzartig bewusst. Dann kann man versuchen, so durchzusteuern, dass man möglichst wenig Gesamtschaden produziert", sagte Thurner.

In der Folge werde aber auch sichtbar, welche wirtschaftlichen Kreisläufe innerhalb des Landes oder einer Region bestehen. Außerdem zeige sich, welche Kreisläufe im eigenen Land nicht geschlossen ablaufen können, und wo es etwa Zulieferer aus China braucht. Wenn dies nachvollziehbar wird, könne die Politik überlegen, wie das wirtschaftliche Ökosystem so gefördert werden kann, dass der Lieferketten-Kreislauf regional geschlossen werden kann.

Service: https://doi.org/10.1038/s41598-022-11522-z

(APA/red, Foto: APA/APA(AFP/NICHOLAS ROBERTS)

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