Aufgrund des Klimawandels sind nahezu weltweit die Gletscher unerwartet schnell auf dem Rückzug. Was auf den nun eisfrei werdenden Flächen passiert, hat sich ein internationales Forschungsteam angesehen. Demnach gilt aus globaler Sicht folgende Formel: Mikro- vor Makro-Organismen. Zentrale Faktoren für die Besiedelung sind das Ausmaß des Temperaturzuwachses, das wiederum Bodennährstoffe anwachsen lässt, und der Pflanzenbewuchs, der den Lebewesen-Nachzug begünstigt.
Der Gletscherrückzug vollzieht sich zum Beispiel im Alpenraum viel rascher und vollständiger als noch vor wenigen Jahren von der Wissenschaft prognostiziert wurde. Von den Ostalpen-Gletschern werden aller Voraussicht nach bis zur Mitte des Jahrhunderts nur noch kümmerliche Reste übrig sein. Klar ist, dass sich auf den dann neu eisfreien Flächen auch ein neues biologisches Regime einstellen wird, wenn zum Beispiel Pflanzen, Pilze und Tiere, denen die Erderhitzung in tieferen Lagen das Leben zusätzlich erschwert, dorthin ziehen. Wo einst nur eine Handvoll Pionierorganismen überleben konnten, tummelt sich in gar nicht allzu langer Zeit mitunter eine Vielzahl an Lebewesen auf einer neu entstandenen Almwiese, heißt es im Fachjournal "Nature".
Wie sich dieser Prozess aber regional vollziehen könnte, ist laut dem Forschungsteam um Gentile Francesco Ficetola von der Universität Mailand und der Uni Grenoble schwer vorherzusehen. In dem großen Verbund von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, der auch den an der Uni Innsbruck tätigen Rüdiger Kaufmann umfasst, hat man nun nach mehr oder weniger überall gültigen Abläufen gesucht, an denen sich die Forschung orientieren kann.
Aus Österreich: Informationen vom Ödenwinkelkees und vom Rotmoosferner
Untersucht wurden dafür 46 Landschaften in tropischen, gemäßigten und polaren Regionen, auf denen sich der Wechsel von Gletschereis auf eisfrei schon vollzogen hat oder vollzieht. Es gingen Daten von Orten ein, die zwischen einem und 483 Jahren vom Eis befreit wurden. Aus Österreich wurden Informationen vom Ödenwinkelkees im Dreiländereck Salzburg-Tirol-Kärnten und vom Rotmoosferner in den Tiroler Ötztaler Alpen berücksichtigt.
Überall dort wurde die vorhandene Biodiversität im Boden mittels einer Methode erhoben, bei der von kleinen Teilen von Erbgut-Sequenzen auf die Gesamtvielfalt geschlossen wird (DNA-Metabarcoding). Im Gegensatz zu den Erwartungen nahm zum Beispiel in den Zentralalpen die Verfügbarkeit von Nährstoffen in den neu besiedelbaren Böden sehr schnell zu, berichten die Wissenschafter. Bakterien und Pilze drangen am schnellsten mit mehreren Arten vor, während Pflanzen und Tiere wie Springwürmer oder Käfer sich in den ersten Jahren dort im Schnitt schwer tun.
Wichtigste Treiber der Artenzunahme sind die Interaktionen zwischen den einzelnen Spezies
Während die Community-Bildung der Pilze und Bakterien nach 50 bis 100 Jahren abgeschlossen scheint, stießen der Analyse zufolge selbst nach knapp 500 Jahren noch neue Pflanzen- und Tierarten dazu. Als wichtigste Treiber der Artenzunahme identifizierten die Forscherinnen und Forscher das Ausmaß an Interaktionen zwischen den einzelnen Spezies - etwa zwischen Bakterien und Pflanzen - und den simplen Faktor "Zeit". Die sich neu bildenden Gemeinschaften ziehen sich also gewissermaßen aneinander mit zunehmender eisfreier Zeit hoch. Mit der erhöht sich zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass Vertreter einer Art quasi zufällig vorbeikommen und den Lebensraum für sich entdecken, schreibt das Team.
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