Opioide - Experten: Kein Überschwappen von US-Krise nach Europa

16. April 2019 - 9:59

In den USA gibt es eine "Opioid-Krise". Zwei Drittel der jährlich rund 70.000 Drogentoten sterben dort an rezeptpflichtigen Opiat-Schmerzmitteln oder illegalen Opiaten wie Heroin. Doch diese Problematik betrifft die USA. Die Situation in Europa und in Österreich ist ganz anders, stellen Fachleute fest. Knackpunkt sind offenbar die unterschiedlichen Strategien in der medizinischen Behandlung.

Schmerzen werden in den USA häufig mit starken Opioiden behandelt
Schmerzen werden in den USA häufig mit starken Opioiden behandelt

Das wichtigste Indiz dafür ist die Zahl der Opiatabhängigen in den USA im Vergleich zu Europa. Burkhard Gustorff, Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin am Wilhelminenspital Wien und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), wurde dazu vor kurzem in einer Aussendung zitiert: "Tatsächlich gibt es keinen Zweifel an der Tatsache, dass die Zahl der Opioid-Toten in den USA kontinuierlich steigt und die Menge der verschriebenen Opioid-Analgetika nach starken Zuwächsen über mehr als 15 Jahre auch steigt und erst in den vergangenen zwei Jahren eine Abschwächung findet. In Australien sehen die epidemiologischen Daten ähnlich aus."

Zahlen in Österreich und Deutschland relativ konstant

Ludwig Kraus vom Institut für Therapieforschung in München und Co-Autoren aus Hamburg (Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg) und aus Ungarn haben Anfang März 2019 im Deutschen Ärzteblatt eine Schätzung über die Zahl der Opioid-Abhängigen in Deutschland veröffentlicht. Sie kamen auf um die 166.000 Betroffene. "Vergleiche mit früheren Schätzungen legen den Schluss nahe, dass sich der Umfang der Personen mit einer Opioidabhängigkeit in Deutschland in den letzten 20 Jahren kaum verändert hat", schrieben die Fachleute. Im Jahr 2000 war man auf einen Personenkreis zwischen 127.000 bis 190.000 Personen gekommen.

Die Schlussfolgerung könnte also darin liegen, dass die US-"Opioid-Krise", die sich in den USA ja bereits seit etlichen Jahren hinzieht, in Ländern wie Deutschland bisher ausgeblieben ist. In Österreich gehen die Drogenfachleute von der Gesundheit Österreich GmbH davon aus, dass es 2004/2005 rund 30.000 Menschen mit risikoreichem Drogenkonsum gab. Ein großer Teil davon entfällt auf Opiatabhängige. Bis 2014 "schwanken die Werte relativ konstant um 30.000. In den letzten Jahren lässt sich wiederum ein Anstieg auf etwa 36.500 Personen beobachten", heißt es im aktuellen österreichischen Drogenbericht. Auch alle diese Entwicklungen zeigen einen Verlauf abseits der Trends in den USA.

Unterschiede bei Ärzten

"Oft wird in der aktuellen Debatte auch nicht berücksichtigt, dass die Situation in Nordamerika und in Europa deutliche Unterschiede aufweist", wurde Rudolf Likar, Past-Präsident der ÖGARI und Vorstand der Abteilungen für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee und am LKH Wolfsberg, dazu zitiert: "Anders als in den USA halten sich die Ärztinnen und Ärzte in Österreich - wie generell in Europa - in der Regel an die entsprechenden wissenschaftlichen Empfehlungen. Wir wissen, dass in den USA in vielen Situationen Opioide verschrieben werden, in denen bei uns sicher nicht zu dieser Substanzgruppe gegriffen wird."

So hätte es Untersuchungen gegeben, dass etwa in Notfallambulanzen in Washington DC 40 Prozent der Patienten, die Schmerzen angaben, beim Erstkontakt ein starkes Opioid erhalten hätten. "Das ist in unseren Notfallaufnahmen völlig anders. Ähnlich verhält es sich bei Geburtsschmerzen, die in den USA routinemäßig mit starken Opioiden behandelt werden. Ein solcher Umgang trägt auch zu steigenden Abhängigkeitszahlen bei."

US-"Absicherungsmedizin" als Hintergrund

Schmerzspezialist Rudolf Likar zitierte dazu auch die in den USA aus rechtlichen Gründen zunehmend erfolgende "Absicherungsmedizin" als Begleitphänomen: "Man schützt sich hier wohl oft vermeintlich vor juristischen Schritten, zum Beispiel weil Schmerzen nicht adäquat gelindert wurden oder weil Nichtopioid-Analgetika zu Nebenwirkungen wie Organschädigungen führen können."

Das Ergebnis laut dem Kärntner Experten: "Dabei wird übersehen, dass die Opioide zwar keine Organe schädigen, aber dafür bei unangemessenem Einsatz zum Outcome (Resultat; Anm.) Tod führen."

Während in den USA oft zunächst nur der Schmerz beseitigt werde, erfolge in Europa und Österreich die analgetische Therapie als Konsequenz einer gesicherten Diagnose, stellte Gustorff fest: "Angesichts der verlässlichen Wirksamkeit klassischer Analgetika wie NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika; Anm.) und Opioiden bei Akut- und Krebsschmerzen kann wohl leicht die Neigung aufkommen, diesen Grundsatz zu vereinfachen: Erst das Symptom, also der Schmerz, dann die Therapie mit Analgetika. Und hier liegt eine der Tücken der US-Krise mit Opioiden. Bei einer solchen Vorgangsweise erhalten Patienten mit Kopfschmerzen starke Opioide, obwohl sie bei Kopfschmerz-Diagnosen nachgewiesen unwirksam sind." Die Folgen der unkontrollierten Verschreibung zeigten sich in Form der "Opioid-Krise" in den USA.

Schmerzspezialist: "Müssen wachsam bleiben"

Likar ergänzte: "Wir müssen sicher weiterhin wachsam bleiben und sicherstellen, dass nur jene Patienten Opioide erhalten, bei denen das Verhältnis von Nutzen und Nebenwirkungen akzeptabel ist, und einen nachweislichen Nutzen davon haben. Aber wir müssen auch sicherstellen, dass nicht Missbrauch in einzelnen Teilen der Welt zu einem globalen Ruf nach Restriktionen beim Einsatz der potenten Schmerzmittel führen, die unüberwindbare Hürden für Patienten bedeuten könnten, die Opioide dringend zur Schmerzkontrolle benötigen, etwa in der Onkologie oder der Palliativmedizin."

Die Verunsicherung von Patienten mit schweren chronischen Schmerzen in Österreich ist jedenfalls bereits groß. "Täglich rufen mich verunsicherte Patienten an, die nicht wissen, ob sie nun ihre verordneten Opiate weiter nehmen sollen", erklärte Susanne Fiala von der Selbsthilfegruppe Schmerz ([email protected]; www.schmerz-allianz.at).

(APA/red, Foto: APA/APA (AFP))

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