Medizin und Medien: Verschobene Perspektiven

20. März 2018 - 9:36

Den Medien wird oft das Übertreiben von Sachverhalten vorgeworfen. Das gilt auch für die Berichterstattung im Medizin-Bereich. Doch allem Anschein nach sind an der Situation längst nicht nur die Journalisten selbst "schuld". Übertreibungen und Verzerrungen finden sich häufig schon im Basismaterial - in Studien und darauf basierenden Pressemitteilungen etc.

Zu leichtfertig werde von Tiermodellen auf Humanmedizin geschlossen
Zu leichtfertig werde von Tiermodellen auf Humanmedizin geschlossen

Erst vor wenigen Tagen fand in an der Grazer MedUni die 19. Jahrestagung des "Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin" statt. Dort gab es auch einen Journalistenworkshop zum Thema "Vertrauenswürdige Pressemitteilung oder medizinische Fake News?", bei dem Bernd Kerschner vom Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems unter anderem eine "Checkliste: Pressemitteilungen rasch einschätzen" präsentierte. Immerhin erreichen ja täglich medizinische Journalisten zahlreiche Pressemitteilungen zu neuen Medikamenten, Medizinprodukten, diagnostischen Tests oder Vorsorgeprogrammen, hieß es zu der Veranstaltung. Mit dem Workshop wolle man Hilfen für die Beurteilung der Inhalte solchen Materials auf Objektivität und Vertrauenswürdigkeit bieten.

Irreführende Publikationen

Oft steckt die Crux bereits am Ursprung, bei den wissenschaftlichen Veröffentlichungen selbst. Das zieht sich über Jahre und Jahrzehnte: Gehörigen Medienrummel gab es 2005 beispielsweise um eine wissenschaftlichen Studie, in der mit dem Diabetesmedikament Pioglitazon die Verhinderung von akuten Herz-Kreislauf-Leiden belegt werden sollte. Freilich, das erste Ziel der Untersuchung an rund 5.200 Patienten - die Reduktion von Gesamtsterblichkeit, nicht-tödlichen Herzinfarkten, Schlaganfällen, akuten Herzkranzgefäß-Problemen sowie der Häufigkeit von Katheter- oder Bypass-Eingriffen an Herz oder Beinarterien sowie von Beinamputationen - wurde statistisch signifikant nicht erreicht. Nach dem Fehlschlagen beim primären Studienziel konzentrierte man sich mit den Erfolgsmeldungen eben auf ein einfacheres, "sekundäres" Kriterium - die Verringerung der Gesamtsterblichkeit, der Zahl der nicht-tödlichen Herzinfarkte und der Schlaganfälle. Das Ergebnis war hier doch noch statistisch signifikant - "Studie gerettet".

Kerschner verwies neben einer eigenen kleinen Studie seiner Institution gegenüber der APA auf mehrere weitere wissenschaftliche Untersuchungen, welche sich mit dem Thema der Darstellung wissenschaftlicher Studien beschäftigt haben. Eine davon stammt von Amelie Yavchitz und wurde am 11. September 2012 in Plos Medicine publiziert. Die Wissenschafter hatten systematisch nach Presseaussendungen zu randomisierten, kontrollierten Studien (Zufallsauswahl der Probanden für Vergleichsgruppen) gesucht, 70 gefunden und 498 Presseaussendungen auf möglichen "Spin" untersucht. Das Ergebnis: Absichtlicher oder unabsichtlich eingeflossener "Spin" fand sich schon bei 40 Prozent der Abstracts (Kurzzusammenfassung) der Studien selbst. Bei den Presseaussendungen war das schon bei 47 Prozent der Fall, in den untersuchten Medienmeldungen dann bei 51 Prozent.

Beobachtungsstudien: Besonders leicht zu überschätzen

Besonders leicht geraten epidemiologische Beobachtungsstudien - manchmal beginnen sie vor, zumeist aber erst nach dem Eintreten eines Ereignisses - in die Medienschlagzeilen. Manchmal handelt es sich überhaupt nur um Berechnungen. Kerschner verwies dazu auf Abschätzungen von australischen Wissenschaftern über den Einfluss des täglichen Konsums dunkler Schokolade auf Menschen mit Diabetes-Vorstufe ("Metabolisches Syndrom"). Demnach könnten durch eine Tafel Schokolade bei 10.000 Personen innerhalb von zehn Jahren 85 Schlaganfälle oder Herzinfarkte verhindert werden - damit auch 15 Todesfälle. Doch das Bemerken von gleichzeitig auftretenden Phänomenen und gar erst die Berechnung ihrer möglichen Auswirkungen ist kein Beweis, die "Heilsbotschaft" steht auf sehr wackeligen Beinen.

Ein Beispiel aus Österreich: Wiener Umwelthygieniker analysierten die Körpergewichtsdaten (BMI-Werte) von 44.000 Gefängnisinsassen in Österreich. Ihr Ergebnis: Je höher der BMI-Wert, desto seltener landeten Menschen in längerer Haft.

Getreu den Tatsachen stellten die Autoren aber fest: "Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie, die keine Kausalität erklären kann." Ursachen-Hypothesen mit höheren Serotoninspiegeln im Gehirn bei Übergewichtigen (weniger Depressionen?) und niedrigeren Testosteronspiegeln bei Adipösen (weniger Aggressivität?) existierten allerdings.

Sowohl epidemiologische Studien, welche bereits vor dem Eintreten eines Ereignisses starten oder welche die Sachlage erst danach analysieren, können nur einen möglichen Zusammenhang aufzeigen, beweisen aber keine Ursachen-Wirkungsbeziehung, so Kerschner. Bei dem Seminar in Graz wurde ein anschauliches Beispiel präsentiert: Das Rauchen verursacht Krebs. Dabei könnte - natürlich fälschlicherweise - auch das ständige Bei-Sich-Tragen von Feuerzeugen für das Lungenkarzinom als Risikofaktor "identifiziert" werden.

Von Menschen und Mäusen

Sprichwörtlich "Legion" sind Beispiele, in denen schnell von Tiermodellen auf den Menschen verwiesen wird, zumeist über verkürzende Titelgebung. Rückschlüsse von Tierexperimenten oder bloß Studien in der Petrischale (in vitro) auf einen Effekt beim Menschen seien "problematisch", stellte Bernd Kerschner in den Unterlagen zu dem Journalistenseminar fest.

"Fetthaltige Kost kann zu Depressionen führen", "Ruhe hält Stammzellen jung", "Unregelmäßiger Lebenswandel begünstigt Diabetes", "Krebs-Wachstumsrezeptor steuert Regeneration von Herzzellen" und viele ähnliche Titel findet man in der Medienwelt der Medizin. Erst später wird dann - hoffentlich - angeführt, dass experimentelle Studien in Maus-, anderen Tiermodellen oder gar erst an Zellkulturen dahinter stecken. Die enorm wichtige Grundlagenforschung in Labor- oder an Tiermodellen dürfte hier - abseits des Entwicklungsstandes der Wissenschaft - zumindest zu schnell als für den Menschen belegte Erkenntnis, wenn nicht als Hoffnungsschimmer für neue Therapien in der Humanmedizin auftauchen.

Problematisch, wenn Perspektive verändert wird

Auch Presseaussendungen von wissenschaftlich hoch seriösen Institutionen können angetan sein, die Perspektive zu verändern. Gerne verweisen sie auf die Bedeutung des eigenen Beitrags zu einer Studie. Eine österreichische MedUni veröffentlichte vor kurzem eine Meldung, wonach ein relativ neues Arzneimittel mit großem Erfolg "unter maßgeblicher Beteiligung" der Universität auf seine Wirkung bei Prostatakrebs in der Verhinderung von Metastasen getestet worden sei. Die Studie war am 8. Februar im "New England Journal of Medicine" erschienen. Die Pressemeldung der Universität wurde von Medien verwendet.

Allerdings, unter den von der weltweit extrem angesehenen Medizinfachzeitschrift als eigentliche Autoren angeführten Wissenschaftern findet sich kein österreichischer Onkologe, auch ein Verweis auf die Universität fehlt im Range der beteiligten Autoren (knapp unter 20). Erst im sogenannten Appendix mit rund 400 zusätzlichen Investigatoren sind für Österreich drei Wissenschafter ohne Nennung ihrer Institutionen verzeichnet. Auf E-Mail-Anfrage zu den Hintergründen gab es bei der primär angesprochenen Universität keine Antwort. Der Erstautor der Studie, Matthew Smith (Massachusetts General Hospital/Boston), schrieb der APA binnen Minuten. Er werde sich darum kümmern.

Margaret Yu, führende Onkologin des Pharmakonzerns Janssen-Cilag, meldete wenig später: Der in der Universitäts-Presseaussendung genannte Onkologe sei laut den sogenannten ICMJE-Kriterien (Internationales Komitee der Medizin-Journale-Herausgeber), die man dafür heranziehe, nicht als Autor zu bezeichnen gewesen. Überhaupt hätten aus Österreich "nur sechs Patienten" (von 1.207) gestammt. Da von einer weiteren österreichischen Universitätsklinik vier Patienten in die Studie aufgenommen worden waren und von einem dritten teilnehmenden Spital keiner, waren es aufseiten jener Universität, welche die Aussendung versendet hatte, offenbar zwei von international insgesamt eben 1.207 Probanden - weniger als zwei Promille.

Die ICMJE-Kriterien verlangen für das Erlangen von Autorenschaft, was wohl maßgebliche Beteiligung bedeutet, bei wissenschaftlichen Studien vier Kriterien. Vereinfacht: Substanzieller Beitrag bei der Konzeption oder Planung der Studie oder bei der Gewinnung, Analyse oder Interpretation der Daten. Hinzu kommen Entwurf oder kritische Überprüfung der Studie, finale Genehmigung des Studientextes für die Publikation und Übernahme der Verantwortung für alle Aspekte der Arbeit (http://www.icmje.org/). Das alles zu überprüfen, dürfte aber eindeutig die Kapazitäten modernen aktuellen Journalismus übersteigen - womit dieser umso mehr auf harte Daten von seriösen Quellen angewiesen ist.

(APA/red, Foto: APA/APA (Techt))

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