Martin Karplus: Theoretischer Chemiker zeigt seine vielen Facetten

7. Juli 2020 - 11:23

"Wissenschaft, Fotografie und Kochen sind meine drei Leidenschaften", sagte Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus anlässlich seines 90. Geburtstags am 15. März dieses Jahres zur APA. Dass sein Leben noch viel mehr als diese drei Facetten hat, zeigt der von den Nazis aus Österreich vertriebene theoretische Chemiker in seiner nun erschienenen Autobiographie "Spinach on the Ceiling".

Karplus ist neugierig, vielseitig interessiert und strebt nach Perfektion
Karplus ist neugierig, vielseitig interessiert und strebt nach Perfektion

Bereits 2006 hatte Karplus unter dem Titel "Spinach on the Ceiling" einen 50-seitigen Rückblick auf sein Leben und Werk im Fachjournal "Annual Review of Biophysics and Biomolecular Structure" veröffentlicht, damals noch mit dem Untertitel "A Theoretical Chemist's Return to Biology". Nun hat er seine Erinnerungen um viele Facetten und auch zahlreiche Fotos erweitert, entsprechend trägt das im Wissenschaftsverlag "World Scientific" auf Englisch erschienene Buch den Untertitel "The Multifaceted Life of a Theoretical Chemist". Eine Übersetzung in Deutsch und Französisch ist laut Verlagsangaben geplant.

Der Titel erinnert an Karplus Kindheit in Wien, als er seinen Widerwillen gegenüber Spinat eindrucksvoll unter Beweis stellte. Der Spinatfleck blieb an der Decke des Grinzinger Hauses der jüdischen Familie - bis diese wenige Tage nach dem "Anschluss" 1938 ihr bisheriges Leben hinter sich lassen und über die Schweiz und Frankreich in die USA flüchten musste.

Die Wissenschaft war dem Spross einer jüdischen Medizinerfamilie in die Wiege gelegt - auch Karplus sollte Arzt werden, doch die Nationalsozialisten und Antisemitismus machten alle Pläne zunichte. "Unser wohlhabendes Leben in Wien gehörte der Vergangenheit an, und wir waren nun relativ arm", erinnert sich Karplus an die ersten Jahre in den USA.

Wie häufig bei Menschen mit ähnlichem Schicksal fragt man sich, wie viele von ihnen trotz aller Verluste und Traumata ein so außergewöhnliches Leben leben konnten, wie es Karplus in seiner Autobiographie schildert. Der Wissenschaftshistoriker Gerald Holton hatte es 2003 in einer Studie über das Schicksal von vor den Nazis in die USA geflüchteter Kinder als "eine Art chemische Reaktion" bezeichnet, "in der europäische und amerikanische Kultur, Lebensstil und die Art zu denken und zu handeln kombiniert wurden, die zu den herausragenden Karrieren" vieler Geflüchteter geführt habe.

Verbundenheit zu Europa

Das mag auch für Karplus stimmen. Trotz seiner - durch verschiedene antisemitische Erfahrungen genährten - Distanziertheit gegenüber Österreich hat er seine Verbundenheit mit und seine Liebe zu Europa nie abgelegt. Er ging als Postdoc nach Oxford, reiste viel in Europa und fand in Frankreich eine zweite neue Heimat. Er selbst beschreibt in dem Buch, dass seine Flucht und sein Gefühl, "nicht ganz dazuzugehören", in seiner Sicht auf die Welt und seiner Herangehensweise an die Wissenschaft "eine zentrale Rolle" gespielt hätten. "Es trug dazu bei, dass ich mich sicher fühlte, die Arbeit in Bereichen aufzugeben, die ich glaubte verstanden zu haben, und mich auf andere Forschungsgebiete zu konzentrieren, indem ich Fragen stellte, die mich und anderen etwas Neues lehren würden."

Das allein kann aber nicht die vielen Facetten in Karplus' Leben erklären. Für diese braucht es auch einen neugierigen, offenen, vielseitig interessierten und klugen Geist, der nicht nur in seinem Fach, sondern in allem, was er tut, nach Perfektion strebt. Sei es als Fotograf, dessen Bilder von seinen zahlreichen Reisen bereits in vielen Ausstellungen zu sehen waren, oder sein lebenslanges Interesse am Kochen, das ihn in einigen der besten Restaurants in Spanien und Frankreich wie El Bulli, Arzak, Les Freres Troisgros, Taillevent oder Robuchon arbeiten ließ.

Das Kochen sei für ihn als theoretischen Chemiker "die einzige echte Chemie gewesen, die ich machte". Doch höchste internationale Anerkennung und die wissenschaftliche Adelung durch die Verleihung des Chemie-Nobelpreises 2013 (gemeinsam mit Michael Levitt und Arieh Warshel) erfuhr er durch seine theoretischen Arbeiten im Bereich Chemie, die er in dem Buch ausführlich, wenn auch nicht immer leicht verständlich beschreibt. Dafür betont er einmal mehr, dass er die offizielle Begründung des Nobelpreiskomitees ("für die Entwicklung von Multiskalenmodellen für komplexe chemische Systeme") nicht für den wichtigsten Teil seiner Arbeit hält. Dies sei vielmehr die für Biologie und Chemie zentrale Simulation molekularer Dynamiken, die aber "vom Nobelpreiskomitee ignoriert wurde".

Wissenschaftliche Karriere

Karplus Erinnerungen schillern in den vielen Facetten seines Lebens: an seine Kindheit in Wien, das neue Leben in den USA, seine Studienjahre in Harvard und am California Institute of Technology, seine wissenschaftliche Karriere, die ihn u.a. nach Oxford, an die Columbia University, die Université de Strasbourg und schließlich wieder an die Harvard University führte, seine Erfahrungen mit Antisemitismus bei seinen Besuchen in Österreich, die Nobelpreis-Bekanntgabe und -Verleihung, seine "gemischten Gefühle" über die Reaktion Österreichs auf diese Ehrung, vor allem aber auch seine Begegnungen mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Charly Chaplin, Max Delbrück, Linus Pauling, Richard Feynman und Barack Obama oder seine Erfahrungen mit dem FBI.

Im Studium in Harvard lernte er u.a., dass "biologische Phänomene auf molekularer Ebene verstanden werden können, was ein Leitmotiv für meine folgende wissenschaftliche Karriere werden sollte", schreibt Karplus. In dem Buch finden sich weitere seiner Leitmotive. Etwa seine "Regel", alle fünf Jahre seine Arbeitsstelle zu wechseln und sich dabei auch gleich einem neuen wissenschaftlichen Thema zuzuwenden. "Es war aufregender für mich, an etwas Neuem zu arbeiten, wo ich viel lernen musste", was ihm dabei half, geistig jung zu bleiben und innovative Ideen zu entwickeln.

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er selbst im hohen Alter noch aktiv ist und sich neuen Forschungsgebieten zuwendet. In den letzten Kapiteln schildert er seine aktuellen Arbeiten etwa zur Erforschung sogenannter Motorproteine oder seine von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung geförderten Bemühungen um einen dauerhaften universellen Impfstoff gegen Grippe sowie seine Aktivitäten als viel gefragter Gast und Vortragender, bei denen er vor allem die Jugend für die Wissenschaft begeistern will.

Und auch mit dem Buch wolle er "junge Menschen begeistern, speziell solche die Naturwissenschaften studieren", sagte er Montag Nachmittag in einer Online-Pressekonferenz. Er habe die Schwierigkeiten in seiner Forschung, die letztlich zum Nobelpreis geführt hat, vor allem durch den Glauben an sich selbst überwunden. Und auch junge Wissenschafter sollten an ihrer guten Idee dranbleiben, auch wenn ihnen jemand sage, dass das keinen Sinn mache. "Der zweite Grund, warum ich das Buch schreiben wollte, ist, dass ich für die zukünftigen Generationen bezeugen möchte, was in Österreich unter den Nazis geschehen ist", sagte Karplus. Und er habe sich selbst erinnern wollen, wie glücklich er sei, dort wo er heute stehe, und das wollte er seiner Familie mitgeben.

Übrigens: Heute liebt Karplus Spinat und "wir kochen ihn fast jede Woche einmal".

Service: Martin Karplus: "Spinach on the Ceiling - The Multifaceted Life of a Theoretical Chemist", Verlag World Scientific, 350 S. Die e-book-Ausgabe für den Kindle ist bereits erschienen: 19,64 Euro; Das Buch selbst gibt es ab 31. Juli auf Amazon: 105,90 Euro, als Taschenbuch: 29,98 Euro; Im Buchhandel ist es nach Verlagsangaben ab Mitte August erhältlich; ISBN: 978-1-78634-802-9; https://doi.org/10.1142/q0238

Von Christian Müller/APA

(APA/red, Foto: APA/APA (Neubauer))

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