Ein vom 6. bis zum 8. Jahrhundert genutztes Gräberfeld nahe Turin eröffnet neue Einblicke in eine Zeit der Veränderung nach dem Fall von Teilen des Römischen Reiches. In einer genetisch-archäologischen Analyse im Fachjournal "PNAS" zeigt eine Forschungsgruppe mit österreichischer Beteiligung anhand einer kleinen Gemeinschaft, wie sich neue Eliten nach dem Ende der alten Ordnung formten. Die neuen Herrscher setzten dabei auch auf die rasche Integration von Alteingesessenen.
Die Idee, dass eine gemeinsame (Volks-)Kultur auch ein Stück weit mit einer gemeinsamen genetischen Herkunft zusammenhängt, ist in der Gesellschaft und auch Teilen der Wissenschaft weiter durchaus verbreitet. Hält man sich jedoch die äußerst bewegte Geschichte Mitteleuropas vor Augen, erscheint das sehr zweifelhaft, erklärte der an der neuen Publikation zentral beteiligte Walter Pohl vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Gespräch mit der APA: "Auch aus schriftlichen Quellen war eigentlich schon klar, dass sich diese 'Völker' aus Leuten verschiedenster Herkunft zusammensetzen, die dann eine gemeinsame Identität annehmen und zusammenwachsen."
Groß angelegtes Projekt "HistoGenes"
Wie das in den besonders bewegten Zeiten am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter in Europa vonstatten ging, wollen Pohl und ein weitverzweigtes Forscherteam im Rahmen des groß angelegten, vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Projekt namens "HistoGenes" herausfinden. So setzen sich die Wissenschafter etwa intensiv mit Gräbern der Awaren - asiatischen Nomaden, die im Frühmittelalter Osteuropa bis ins Wiener Becken beherrschten - auseinander. Auch die Spuren, die zum Beispiel die Langobarden hinterlassen haben, analysieren die Forscherinnen und Forscher mit modernen Methoden.
Historisch gut dokumentiert ist deren Vorstoß vom heutigen Westungarn und Ostösterreich aus nach Italien im Jahr 568. Im zuvor römisch geprägten Norditalien errichteten die "Langobarden" - bzw. eigentlich verschiedene Gruppen unter Führung der Langobarden - ein Königreich, das rund 200 Jahre bestand. Wie die Eroberer aus nördlicheren Teilen Europas ihre Macht südlich der Alpen etablieren und aufrecht erhalten konnten, ist Gegenstand der Forschung.
Darüber können heute Gräberfelder wie jenes von Collegno nahe der norditalienischen Großstadt Turin noch Aufschluss geben. Dort wurde zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert die Führungsriege der ansässigen Bevölkerung bestattet. Da der Ort an einer wichtigen Straße in Richtung der Pässe in die französischen Alpen lag, war es vermutlich die Aufgabe der zunächst neuen langobardischen militärischen Elite vor Ort, den Weg in den Westen zu kontrollieren.
Gene belegen kulturelle Integration und Elitenbildung
Schon unter der Leitung von Patrick Geary vom Institute for Advanced Study in Princeton (US-Bundesstaat New Jersey) wurde das Gräberfeld vor einigen Jahren untersucht. "Damals hat das so ausgesehen, als ob sowohl Leute eher nördlicher Herkunft als auch mediterraner Herkunft dort bestattet sind, die beiden Gruppen kulturell aber relativ deutlich unterschieden werden können", so Pohl: "Das hat uns eigentlich überrascht."
So habe man gesehen, dass die vermeintlichen Langobardenkrieger mit Schwertern und die Frauen mit den charakteristischen Gewandfibeln begraben wurden, während die vermeintlich römischen Verstorbenen ohne Beigaben beigesetzt wurden. Das wurde teils dahingehend interpretiert, dass die jeweilige Kultur anhand der Abstammung weitergegeben wurde. Im Rahmen der neuen Studie wurden nun zusätzlich zu den zuvor analysierten 24 Genomen aus Collegno weitere 28 Genome aufgeschlüsselt. "Jetzt sieht die Geschichte schon ganz anders aus", sagte Pohl.
Das Team um den "HistoGenes"-Projektleiter, dem u.a. auch Wissenschafter vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, von der ELTE-Universität in Budapest und aus Princeton angehörten, konnte nun die Verwandtschaftsverhältnisse über fünf Generationen hinweg genauer auflösen. Demnach bestand die "Gründersippe" der dortigen kleinen langobardischen Elite aus drei Familienlinien. Bei zwei davon stellte man eine überwiegende Abstammung von nördlich der Alpen fest. Der Begründer der dritten Familie jedoch "war ein Mann mediterraner Herkunft, der aber ganz nach langobardischer Art bestattet wurde", wie Pohl erklärte. Dieser "Römer" heiratete also eine Frau aus dem Norden und wurde Teil der einflussreichsten langobardischen Familie am Ort.
Kulturelle Zugehörigkeit doch nicht so stark "genetisch-biologisch" bestimmt
Das bedeute also: Die kulturelle Zugehörigkeit war doch nicht so stark "genetisch-biologisch bestimmt", betonte der Wissenschafter. "Es sind also schon relativ bald nach dem Einzug der Langobarden auch Menschen römischer Herkunft in diesem Langobardenheer aufgestiegen und haben Prestige erlangt."
Service: Die Publikation online: https://doi.org/10.1073/pnas.2317868121
Projektwebsite: https://www.histogenes.org
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