Hirnforscher: "Wir sind am Anfang einer neuen Epoche"

12. Februar 2020 - 16:23

Die Hirnforschung befindet sich, unterstützt von modernen Technologien, am Anfang einer neuen Epoche. Gleichzeitig weiß man heute paradoxerweise weniger über das menschliche Hirn als vor 20 Jahren. Das sagte der deutsche Hirnforscher Wolf Singer, der kürzlich einen Vortrag in Wien hielt, im APA-Interview gemeinsam mit dem Stammzellforscher Jürgen Knoblich.

Neurobiologische Erkenntnisse im Widerspruch zu menschlicher Intuition
Neurobiologische Erkenntnisse im Widerspruch zu menschlicher Intuition

Moderne neurobiologische Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns stehen ganz grundsätzlich im Widerspruch zur menschlichen Intuition, so die These des emeritierten Direktors des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt. Das betreffe besonders das Gefühl, "dass irgendwo im Kopf eine Zentrale zu verorten wäre, in der die Entscheidungen fallen, wo die Wahrnehmungen programmiert werden und wo letztlich das autonome Ich zu verorten wäre, das Entscheidungen trifft", so Singer, der auf Einladung des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) referierte. In Wahrheit habe man ein "extrem distributiv organisiertes System" vor sich, "das sich ohne einen Dirigenten zurechtfindet, sondern sich selbst organisiert". Diese unglaublich komplexe Dynamik sei für den Menschen nicht vorstellbar, weil die Dimensionalität so hoch sei.

Vor Jahrzehnten sei die Erforschung des Gehirns noch linear und von der Struktur von künstlichen Systemen geprägt gewesen, in denen die Information in der immer gleichen Richtung von einer Eingangsschicht in eine Ausgangsschicht fließt. Würde man diesen Pfaden nur immer weiter folgen, so die Annahme, würde man in absehbarer Zeit die Funktionsweise verstehen. Die Erkenntnis, dass es im Gehirn "gänzlich anders zugeht", habe zu einer großen Enttäuschung geführt. Für Singer hat das aber auch "etwas Euphorisierendes". "Wir haben die lineare Systemtheorie abgelöst, wir sind jetzt mehr in der Welt der Komplexitätstheorie, der komplexen nichtlinearen Systeme, die sich nahe am Chaos befinden", sieht der Gründungsdirektor des Ernst Strüngmann Institute for Neuroscience in Cooperation with Max Planck Society (ESI) den Anfang einer neuen Epoche angebrochen. Die Technologie zur Erforschung der Systeme stehe jetzt zur Verfügung - etwa die Möglichkeit, mit gentechnischen Methoden das gesamte Nervensystem von Zebrafischen in Echtzeit zu beobachten.

Riesige Erkenntnislücken

Trotz aller Fortschritte klaffen in der Hirnforschung noch riesige Erkenntnislücken. "An den wirklich großen Lücken kann man nicht einmal arbeiten, zum Beispiel an der Verbindung zwischen dem materiellen Gehirn und dem, was wir als Psyche empfinden", sprach IMBA-Direktor Jürgen Knoblich das "schwere Problem des Bewusstseins" an. Die von Knoblich und seinem Team ständig weiter entwickelten Organoide - in Kulturschalen gezüchtete Nervenzellhaufen, die Gehirnen in einem frühen Entwicklungsstadium ähneln - seien jedenfalls "Lichtjahre" davon entfernt, ein Bewusstsein entwickeln zu können.

"Wir beschäftigen uns nicht damit, wie funktioniert es, wenn wir denken, sondern wie ist der Bauplan, welche Dinge kommen zum Tragen. Das ist die Stärke der Organoide. Damit versuchen wir zu zeigen, was beim Menschen anders läuft als bei den Tieren", sagte Knoblich, der hofft, "dass wir auch über Krankheiten letztendlich etwas über die Funktionsweise unseres Gehirns lernen werden, das dann wieder unseren Patienten zugutekommt".

Wolf Singer wiederum würde gerne noch im Lauf seines Forscherlebens verstehen, "was die Großhirnrinde macht, um so extrem effizient zu sein, und was das Geheimnis war, warum sie in der Evolution so stark hochskaliert worden ist". Sie müsse ein Prinzip verwirklicht haben, das auf geniale Weise auf ganz unterschiedliche Problemlösungen anwendbar ist, und "sich radikal unterscheidet von allem, was wir in künstlichen Systemen kennen".

Service: Das gesamte Interview ist im Wortlaut auf APA-Science nachzulesen: http://go.apa.at/5QkqU1cJ

(APA/red, Foto: APA/APA (dpa))

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