Um 1850 gab es nur rund 100 unterschiedliche Berufe, heute sind es dreißigmal so viele. Zur Erforschung dieser Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes entwickelt ein Team der Universität Graz aktuell eine KI-gestützte Technologie, die acht Millionen digitalisierte Zeitungsseiten von 1850 bis 1949 auf Stellenanzeigen scannt und diese als maschinenlesbaren Text auswirft. Rund 1,3 Millionen Annoncen sollen am Ende des Projekts für die Forschung verfügbar sein.
In der Essenz könne ein Arbeitsmarkt als "Matching" bezeichnet werden - also als die erfolgreiche Verknüpfung von offenen Stellen mit Arbeitssuchenden. Besonders interessant für den Untersuchungszeitraum ist dabei die zunehmende Komplexität von vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten sowie von Angebot und Nachfrage, sagte der Volkswirt Jörn Kleinert, der das Forschungsprojekt leitet, zur APA. Der enorme Datensatz, der in dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt in Kooperation mit der historischen Zeitungsdatenbank ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) gewonnen wird, biete dabei unterschiedlichen Disziplinen Material - von Volkswirtschaft bis zu Soziologie und Geschichte.
Das Training des Algorithmus war ein komplizierter Prozess, erklärte Kleinert. Zuerst habe das Team eine Vorauswahl getroffen: Nur deutschsprachige Tageszeitungen, die zehn Jahre am Stück erschienen sind, sollten in das Datensample einfließen. Die daraus resultierenden 12,4 Millionen Seiten wurden untersucht, um Ausschlusskriterien etwa anhand der Seitenzahl oder des Formats zu finden. So konnte man ihre Anzahl in einem ersten Schritt auf drei Millionen reduzieren.
Dann wurde ein Trainingssample für den lernenden Algorithmus zur optischen Zeichenerkennung erstellt. Vorerst sollte dieser nur erkennen, auf welchen Seiten sich Stellenanzeigen befanden, danach auch die Position der Stellenanzeigen auf der Seite verlässlich identifizieren. Die Trainingsdatensätze wurden dabei zufällig gezogen, die Ergebnisse nach jedem Arbeitsschritt von den Forschenden händisch nachkorrigiert. Zuletzt sollte der Algorithmus die Stellenanzeigen in maschinenlesbare Textdateien umwandeln - eine Herausforderung, denn diese sind im Hinblick auf Schriftgröße und -typ im Laufe der Jahre sehr unterschiedlich gestaltet.
12.500 solcher Stellenanzeigen habe das Team schon nachgeprüft und korrigiert, rund 2.500 möchte man noch hinzufügen. Das geprüfte Set wird von der ÖNB veröffentlicht und so für die Forschung zugänglich gemacht. Der Datensatz wird aber auch in einer letzten Runde zum Training des Algorithmus genutzt. Nach allfälligen kleineren Korrekturen sollen danach alle rund 1,3 Millionen Stellenanzeigen ausgelesen werden, sagte Kleinert.
Stellenanzeigen in Zeitungen per se sind spontan und wegen der Initiative von Akteurinnen und Akteuren entstanden, so die Vermutung des Volkswirts. Ab 1880 finanzierten sich Zeitungen außerdem hauptsächlich über Annoncen - entsprechend stark wurden sie von dieser Seite gepusht.
Im Untersuchungszeitraum wurden aber nicht alle Jobs auf diese Weise vermittelt: Bis 1900 hätten die meisten Menschen "Umschau" betrieben. Arbeitswillige gingen montagmorgens in die Produktionswerke und suchten so eine bezahlte, meist sehr kurzfristige, Beschäftigung. Staatliche Arbeitsämter sind erst um die Jahrhundertwende entstanden, private Agenturen oder Mittelsmänner hatten einen schlechten Ruf. "Die Matching-Mechanismen waren sehr unterschiedlich - über die Zeitung wurden nur ganz spezifische Arten von Jobs vermittelt", so Kleinert. Dazu zählen etwa Arbeiten "im Haus", Dienstleistungen und qualifiziertere Tätigkeiten wie Buchhalter genauso wie eher städtische und überregionale Jobs.
Die historischen Stellenanzeigen machen trotzdem nachvollziehbar, wie stark sich der Arbeitsmarkt in diesem Zeitraum ausdifferenziert hat. "Am Anfang unseres Untersuchungszeitraum werden meistens einfach zwei Hände gesucht, entweder männlich oder weiblich - das ändert sich im Lauf der Zeit massiv", sagte Kleinert. Später werden Ausbildungen, Qualifikationen und Referenzen erwartet. Zudem gab es 1870 Berufsbilder wie etwa die Typistin mit Stenokenntnissen, den Bautechniker und den Elektrotechniker schlicht nicht, 1927 waren sie hingegen gefragt.
Bei dem Projekt wurden auch aus heutiger Sicht kuriose Funde gemacht: etwa die Annonce einer englischen Dame, die 1870 nach Baden oder Ischl in den Urlaub mitgenommen werden wollte und im Gegenzug Englischunterricht anbot.
"Das ist wirklich ein großer Fundus an neuen Informationen, an die wir früher nie gedacht hätten und die wir nur durch Statistiken nie sammeln könnten", so Kleinert. Wie viel Verhandlungsspielraum in den Anzeigen eingeräumt wird, erlaube beispielsweise Schlüsse zu Arbeitskräftemangel oder -überfluss in bestimmten Bereichen, Stimmung und Tonalität der Anzeigen machen die Lage der Menschen vorstellbar.
"Für heute gibt uns die Untersuchung einen anderen Blick auf den Arbeitsmarkt und zeigt, wie wandlungsfähig dieser ist", resümierte Kleinert. "Denn dieser ist zwar enorm komplex, aber immer auch dynamisch, lebendig und er passt sich auch in Zeiten großer Umbrüche an das an, was gebraucht wird."
Service: Projektwebsite: https://historical-job-ads.uni-graz.at/de
APA/red Foto: APA/APA/dpa/Christopher Hirsch