Forscher: Viele Fragen um Atomwaffen in "multipolarer nuklearer Welt"

29. April 2022 - 10:23

Trotz Abrüstungsverträgen und öffentlichwirksamer Reden zur Reduktion von Atomwaffen sind die Arsenale der Atommächte weiter gut gefüllt. Der Trend gehe aktuell sogar "massiv" in Richtung Modernisierung des Nuklear-Inventars, so der Risikoforscher Wolfgang Liebert bei einem Online-Vortrag. Gegenüber der Situation im "Kalten Krieg" sei die Situation in der "multipolaren nuklearen Welt" nun noch instabiler. Der Forscher sieht aber auch "Hoffnungsschimmer".

Russland flext mal wieder die nuklearen Muskeln
Russland flext mal wieder die nuklearen Muskeln

Die Ansage Wladimir Putins am Beginn des Ukraine-Krieges am 27. Februar, die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, habe ein "Aufschrecken in Europa" und teilweise auch im Rest der Welt zur Folge gehabt. Plötzlich wurde die verfahrene Situation rund um die fragwürdige gegenseitige Abschreckung durch die zumindest in den vergangenen paar Jahrzehnten nicht offen ausgesprochene Option des Einsatzes von Nuklearwaffen wieder ein Stück weit greifbarer. Man habe es mit einer "etwas verdrängten nuklearen Lage" zu tun gehabt, sagte der Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien.

Letztlich war es in der jüngeren Vergangenheit aber immer so, dass sich weltweit ziemlich viele Kernwaffen in ständiger Alarmbereitschaft befanden - seien es große Nuklearwaffen in Raketensilos, auf U-Booten oder schweren Bombern oder kleiner dimensionierte Sprengköpfe. Gerade Russland und die USA verfügen weiter über einen großen Fundus an solchen Waffen. "Wobei wir natürlich wissen, dass wir nicht alles wissen, weil die Kernwaffenstaaten sehr zögerlich mit den Informationen sind", sagte der Physiker.

Russland: Sprengkraft von umgerechnet 600.000 Kilotonnen TNT

Alleine für Russland kommen Schätzungen auf eine exorbitante Sprengkraft von jenseits der 600.000 Kilotonnen TNT, die USA stünden hier um nichts nach. Dazu kommen die weiteren Nuklearmächte zu denen auch noch Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea gezählt werden. Weiters sind auch noch US-Atomwaffen in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei stationiert.

Es sei zu beobachten, dass alle Kernwaffenstaaten ihr Arsenal modernisieren. Das führe auch dazu, dass Systeme mittlerweile mit einer höheren Treffgenauigkeit die insgesamt etwas abgenommenen Stückzahlen an Sprengköpfen in ihrer Wirkung vermutlich wettmachen. Auch wenn sich die Welt mit dem aktuellen Arsenal eher nicht mehr so schnell in den nuklearen Winter bomben kann, brächte ein größerer Einsatz weltweit dramatische Temperatureinbrüche und Niederschlagsveränderungen mit sich.

Solange diese Potenziale bestehen, gebe es immer ein gewisses Risiko, dass auch konventionell geführte Kriege zum Atomkrieg eskalieren können, so Liebert: "Wenn einer anfängt - wer auch immer, wo auch immer -, dann wird es wohl auch eine Reaktion geben." Wie Russland mit seinem nuklearen Abschreckungspotenzial im Fortlauf des Ukraine-Krieges weiter verfährt, gelte es zu beobachten. Klar sei: "Die bipolare Welt des 'Kalten Krieges' alten Typs war schon nicht stabilisierbar. Die multipolare nukleare Welt ist eigentlich gar nicht mehr stabilisierbar."

Die Hoffnung auf echte nukleare Abrüstung sei aktuell gering. Eher sei zu befürchten, dass es einen Neustart für landgestützte Mittelstreckensysteme in Europa geben könnte. Initiativen zur Einschränkung würden aber immer wieder gesetzt: So etwa u.a. die sogenannte "Austrian Pledge", die 2014 auf der Wiener Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Nuklearwaffen lanciert wurde, und in die "Humanitarian Pledge" ("Humanitäre Verpflichtung") mündete. Diesem Vorstoß zu einem umfassenden Verbot von Kernwaffen würden sich immer mehr Staaten anschließen. Österreich sei in dem Bereich zuletzt immer "an vorderster Front dabei" gewesen. Eine weitere einschlägige Konferenz wird Ende Juni in Wien abgehalten. "Vielleicht gibt es doch noch einen Hoffnungsschimmer", so Liebert.

(APA/red, Foto: APA/APA/Russian Defence Ministry/HANDOUT)

tutor18

Studium.at Logo

© 2010-2021  Hörsaal Advertainment GmbH

Kontakt - Werbung & Mediadaten - Datenschutz - Impressum

Studium.at versichert, sämtliche Inhalte nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und aufbereitet zu haben.
Für etwaige Fehlinformationen übernimmt Studium.at jedenfalls keine Haftung.