Experte: Energiewende birgt noch große Herausforderungen

29. Juni 2018 - 10:23

Auf dem Weg zur Dekarbonisierung, also der vollständigen Abkehr von fossilen Energiequellen, scheint mit der Energiewende ein erster Schritt geschafft. Jetzt geht es um die Integration der Erneuerbaren ins System, neue Speichertechnologien und smarte Netze, erklärte Armin Schnettler, Leiter der weltweiten Energieforschung bei Siemens, im Gespräch mit APA-Science.

Armin Schnettler sieht Stromwirtschaft aber auf gutem Weg
Armin Schnettler sieht Stromwirtschaft aber auf gutem Weg

"In der Stromwirtschaft sind wir auf einem sehr guten Weg in Richtung Dekarbonisierung. Treiber sind die Subventionswirtschaft, die Vorrangregelung und die fixen Tarife", so Schnettler. Deutschland habe hier die Vorreiterrolle angetreten und zahle rund 25 Mrd. Euro pro Jahr an Umlage für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Dadurch seien weltweit die Stromgestehungskosten in dem Bereich konkurrenzlos günstig. "Jetzt geht es darum, diese volatilen Energieträger so in das System zu integrieren, dass eine hohe Versorgungssicherheit bestehen bleibt", sagte der Experte.

Dafür notwendig sei ein intelligenteres Netzmanagement. "Das heißt, dass man die Netze näher an den physikalischen Grenzen, also den Stabilitätsgrenzen, betreiben muss. 'Manuell' handhabbar sind die Systeme dann nicht mehr", so Schnettler. Derzeit entscheide der Schichtleiter, ob beispielsweise ein Kraftwerk runtergefahren wird. Im nächsten Schritt würde eine Art Autopilot entwickelt, der Alternativen vorschlägt, die vom Mitarbeiter nur noch quittiert werden. "Langfristig werden die Stromsysteme vollautomatisiert betrieben, weil die Computer die Komplexität besser beherrschen", meint der Forschungsleiter. Ein Risiko, das dabei nicht unterschätzt werden dürfe, seien Software-Bugs oder gehackte Systeme.

Speicher nötig

Nach deren Integration ins System werde mit einem Anteil der erneuerbaren Energien von 50 bis 60 Prozent Stufe zwei der Energiewende erreicht. Dann müsse man sich darauf einstellen, "dass es irgendwann die berühmt-berüchtigte 'Dunkel-Flaute' gibt - also kaum Wind oder Sonne. Da müssen wir natürlich einen Kraftwerkspark vorhalten, der einspringt. Und das bedeutet wiederum, dass wir Speicher brauchen", erklärte Schnettler, der von der Tageszeitung "Handelsblatt" im Vorjahr unter die 100 Innovatoren Deutschlands gereiht wurde.

Hier würden sich derzeit zwei Arten durchsetzen: Im dezentralen, lokalen Bereich trage der Batteriespeicher, üblicherweise ausgelegt auf zwei bis acht Stunden, zur Netzstabilisierung bei. Als Großspeicher würden vor allem Power-2-X-Technologien, insbesondere die Wasserstoffbereitstellung über Elektrolyse, fungieren. "Dieser Wasserstoff kann dann entweder direkt in industriellen Prozessen genutzt werden oder als Grundstoff zur Weiterverarbeitung, um beispielsweise grüne Kraftstoffe zu erzeugen", so Schnettler. Ein mögliches Einsatzgebiet dafür sieht er etwa bei Flugzeugen, bei denen auch künftig nur ein Teil der Energie aus Batterien kommen werde.

Die Elektrolyse sei derzeit in der einstelligen Megawatt-Klasse. In Linz werde nun erstmalig die nächste Generation aufgebaut, die in den zweistelligen Bereich vorstoßen soll. Der Startschuss für die weltgrößte Pilotanlage zur CO2-freien Wasserstoff-Herstellung fand im April bei der voestalpine in Linz statt. Ein Modul mit 6 Megawatt (MW) Anschlussleistung bildet das Kernstück der Anlage, in die die voestalpine, Siemens und der Verbund jeweils 2 Mio. Euro stecken. Es sei aber modular aufgebaut und könnte problemlos auf 17 MW erweitert werden, erklärte der Experte. "Wir sind in Diskussion mit vielen Partnern, die dreistellige MW-Klasse zu erreichen." Das sei nicht unrealistisch, denn alle vier bis fünf Jahre gebe es hier eine Verzehnfachung der Leistung.

Neue Möglichkeiten auch im Stromhandel

Neben der Energieerzeugung werde es auch im Stromhandel zu neuen Herausforderungen kommen. So könnten US-Technologie-Riesen wie Google oder Amazon schon bald in Konkurrenz mit den Energieversorgern treten. Er sieht nur zwei Optionen: "Entweder die Versorger sind aktiv dabei und suchen sich starke Partner, oder sie haben ein Problem", prognostiziert Schnettler. Intelligente Stromzähler, die als Schnittstelle zur neuen digitalen Energiewelt gelten, seien dabei nicht spielentscheidend. Im Gegenteil: "Ich glaube, dass die Messe des Smart Meter schon fast gelesen ist."

Tatsache sei, dass die Kommunikation immer stärker am Zähler vorbei gehe. Denn im Haus oder im kleingewerblichen Bereich gebe es überall leistungselektronische Komponenten mit Sensoren und Konnektivität, die nicht an den Smart Meter gebunden seien: Photovoltaik-Anlagen auf dem Dach, Batteriespeicher oder Ladeinfrastruktur für das Elektroauto. "Die verbinden sich mit dem Router und kommunizieren mit irgendeiner Plattform - das kann Google, Amazon oder Wien Energie sein", so Schnettler. Hier gebe es einerseits ein Einfallstor für neue Geschäftsmodelle, aber auch für Eindringlinge, die sich ins System hacken. Die Gefahr eines Blackouts nehme dadurch jedenfalls zu, ist der Experte überzeugt.

(APA/red, Foto: APA/Siemens Austria)

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