EU-Joint Research Centres wollen im Rennen um Themen spontaner werden

21. November 2018 - 11:41

Welche Grenzwerte für potenziell schädliche Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln gelten, wird nicht nur politisch verhandelt, sondern basiert vor allem auf Forschung. Europas "regulierende Wissenschaft" liegt vielfach in der Hand der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU-Kommission (JRC). Angesichts neuer Themen, wie Fake News, Elektromobilität oder Klimawandel möchte man dort künftig spontaner werden.

Forschungsschwerpunkte von Elektromobilität bis Erdbebensicherheit
Forschungsschwerpunkte von Elektromobilität bis Erdbebensicherheit

Rund 2.000 Menschen machen sich täglich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz in der Campus-ähnlichen Anlage im norditalienischen Ispra, die in der vergangenen Woche von einer Gruppe österreichischer Jungforscher im Rahmen des EU-Ratsvorsitzes Österreichs besucht wurde. In etwa zwei Drittel der Mitarbeiter sind Wissenschafter, darunter auch rund 20 aus Österreich, die beispielsweise an Ansätzen zur Vermeidung von Tierversuchen, in der Umweltforschung oder an der Vernetzung des europaweiten Wissens zu seltenen Krankheiten arbeiten. Ungefähr 150 Gebäude befinden sich auf dem Gelände, dessen Dimension sich an den 36 Straßenkilometern ablesen lässt, die Forschungsinstitute mit Schwerpunkt auf Nanomaterialien, Nahrungsmittel-, Erdbeben- oder atomare Sicherheit, Luftgütemessung, Risikomodellierungen aller Art oder neuerdings auch zur Elektromobilität verbinden.

Neben Ispra ist der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission an vier weiteren, kleineren Standorten in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Spanien vertreten. Insgesamt zählt die JRC knapp über 3.000 Mitarbeiter, das Budget beträgt derzeit jährlich 386 Mio. Euro. Zusätzlich werden noch rund 60 Mio. an Drittmitteln pro Jahr eingeworben.

Fachlich sind die Anforderungen an Wissenschafter in diesen Einrichtungen nicht anders als in der akademischen Welt. Trotz alljährlich ungefähr 1.400 publizierter Fachartikel ist das Endergebnis der Forschungsarbeit jedoch oft keine Veröffentlichung in Fachjournalen, sondern eher "die eine oder andere Zeile in einer EU-Richtlinie", sagte Catherine Simoneau, stellvertretende Leiterin der Abteilung für Wissensmanagement der JRC, zur APA.

Arbeit an konkreten Fragen

Mit der Aussicht auf einen Nobelpreis könnten die Einrichtungen eher nicht locken, vielmehr mit der Arbeit an konkreten Fragen, die mitunter jeden EU-Bürger betreffen. Während sich vor allem Jungforscher im Wissenschaftssystem oft sehr lange in einem Hamsterrad aus Projektanträgen und der ungewissen Aussicht auf Laufbahnstellen befinden, kann an den JRC-Standorten in budgetär stabilem Umfeld gearbeitet werden. Die Ausstattung mit Forschungsgeräten sei jedenfalls auf neuestem Stand, die Themen durchaus interessant, wenngleich der Fokus eben ein deutlich anderer sei als etwa im akademischen Bereich, so der Tenor unter den fünf Nachwuchsforschern von der Universität für Bodenkultur (Boku), der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG), der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), der Montanuniversität Leoben und der Technischen Universität (TU) Graz, die die Gelegenheit zum Besuch in Ispra nutzten.

An der TU Graz forscht Markus Bainschab im Rahmen des von der EU geförderten Projekts "Down to 10" u.a. gemeinsam mit JRC-Forschern. "Fahrzeuge stoßen auch immer mehr Partikel in Größenordnungen rund um zehn Nanometer aus", erklärte Bainschab bei der Präsentation der Arbeiten der heimischen Jungforscher. Bei dem Vorhaben geht es darum, herauszufinden, wie dieser Zoo an Kleinstteilchen mit Durchmessern unter 23 Nanometern zukünftig verlässlich gemessen werden kann. Die Erkenntnisse könnten in zukünftige Abgas-Regulationen einfließen. Hier handle es sich jedenfalls um eine reizvolle und sehr alltagsrelevante Fragestellungen, so Bainschab.

Über Fachgrenzen hinausschauen

Zur Beantwortung solcher Fragen suche man auch nach "neuen Hybrid-Wissenschaftern", die gerne über Fachgrenzen hinausschauen, sagte Simoneau. Neben einem gewissen Interesse an EU-Politik brauchen Forscher am JRC auch die Bereitschaft, flexibel auf aktuelle Entwicklungen zuzugehen bzw. sich aktiv damit auseinanderzusetzen, zu welchen Themen in Zukunft wissenschaftliche Expertise verstärkt gebraucht wird. Wird im Zuge des "Horizon Scannings" ein solches Feld auserkoren, kann es beispielsweise unter dem Dach eines "Knowledge Centres" institutionalisiert weiterverfolgt werden. Fünf solche Zentren unter dem Dach der JRC gibt es bisher, eines davon ist der - auch in Reaktion auf die Fluchtbewegung ab 2015 - im Folgejahr ins Leben gerufene Forschungsverbund für "Migration and Demographie".

Dieses fußt auf einer Kooperation zwischen dem JRC und dem Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien. Geleitet wird es von dem Wiener Demographen Wolfgang Lutz, Direktor des World Population Program am IIASA, und von Delilah Al-Khudhairy, Chefin der Politikberatung im JRC. Ziel ist es, bessere Daten sowie Forschungsergebnisse über die Langzeitauswirkungen von Migration auf die Bevölkerungsstruktur in der EU zu liefern. Neben den "Knowledge Centres" setzt man auch in "Competence Centres" auf spontanere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, etwa beim datengestützten Erkennen von Social Media-Trends, von Fake News oder Zukunftsprognosen aller Art mit Hilfe von Big Data-Methoden.

Gerade in Zeiten von Fake News und Co müsse man sich im Klaren sein, dass "ganz viele Dinge politisch nicht entscheidbar sind, wenn man keine Faktengrundlage hat", sagte Daniel Weselka, der im Bildungsministerium u.a. für naturwissenschaftliche Grundlagenforschung zuständig ist und seit 2003 im JRC-Aufsichtsrat sitzt, zur APA. Die Gemeinsame Forschungsstelle habe sich in den vergangenen Jahren tatsächlich stark weiterentwickelt und sei nun "sehr nahe am Puls der Probleme, die die Bürger haben" - mitunter näher als manch andere wissenschaftliche Einrichtung.

Österreich sei in der JRC "gut repräsentiert", sagte Weselka. So unterhalte man bis dato etwas mehr als 20 Kooperationsvereinbarungen mit heimischen Unis, nationalen Behörden und Laboratorien oder Unternehmen. Vor wenigen Jahren hätte es noch deutlich weniger Partnerschaften gegeben, "Luft nach oben" in der Zusammenarbeit mit dem "unbekannten Champion" in der europäischen Forschung gebe es selbstverständlich immer noch, so Weselka.

Service: JRC-Website: https://ec.europa.eu/jrc/en; "Down to 10"-Projekthomepage: www.downtoten.com

(APA/red, Foto: APA/APA (dpa))

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