Eric Kandel sucht mit Störungen des Gehirns nach menschlicher Natur

19. Oktober 2018 - 10:41

Für Eric Kandel liefert die Erforschung von Erkrankungen des Gehirns heute wie nie zuvor neue Einblicke in die normalen Funktionen des Denkorgans. In seinem neuen, nun auf Deutsch erschienenem Buch "Was ist der Mensch?" gibt der 88-jährige Neurowissenschafter und Nobelpreisträger Einblick in die "Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten".

Was ist der Mensch?
Was ist der Mensch?

86 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) kommunizieren im Gehirn über präzise Verknüpfungen (Synapsen) untereinander. Kandel selbst hat an Meeresschnecken gezeigt, dass sich diese Synapsen durch Erfahrung bzw. Lernen verändern, wofür er im Jahr 2000 den Medizin-Nobelpreis erhielt. Geraten die komplexen Prozesse im Gehirn durcheinander, kann das zu Krankheiten wie Autismus, Depression, bipolare Störung, Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson oder Posttraumatischen Belastungsstörungen führen.

Das Wissen über solche fehlgeleitete Prozesse sei nicht nur unentbehrlich, um neue Therapien für diese Krankheiten zu finden. Störungen und Erkrankungen des Gehirns würden auch einen Einblick in das typisch gesunde Gehirn bieten, schreibt Kandel.

Psychische Störungen werden heute nach einem System klassifiziert, das auf den deutschen Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) zurückgeht. Er ging davon aus, dass alle Erkrankungen des Geistes eine biologische Ursache haben. Und auch Kandel ist überzeugt, dass "alle psychischen Beeinträchtigungen die Folge ganz bestimmter Veränderungen in der Funktion von Neuronen und Synapsen sind", psychische Krankheiten seien genau wie neurologische Störungen auf Anomalien im Gehirn zurückzuführen.

Geschichte der Erfoschung und biologische Grundlagen

Kraepelins Klassifikation folgend beschreibt Kandel in dem Buch verschiedene Störungen und widmet etwa dem autistischen Formenkreis, Depression und bipolaren Störungen, Schizophrenie, Demenz, Parkinson, Posttraumatischen Belastungsstörungen und Suchterkrankungen eigene Kapitel. Darin wird zu jeder Erkrankung nicht nur ein Blick in die Geschichte ihrer Erforschung geworfen, sondern auch ihre biologischen Grundlagen und genetischen Zusammenhänge erklärt.

Kandels Leidenschaft für Kunst, die er schon in seinem 2012 erschienenem Buch "Das Zeitalter der Erkenntnis", einem Brückenschlag zwischen Hirnforschung und Kulturgeschichte, offenbarte, zeigt sich auch in seinem neuen Werk. Immer wieder präsentiert er konkrete Beispiele für den engen Zusammenhang von Kreativität und Störungen des Gehirns und widmet dem Thema auch ein eigenes Kapitel.

Der Neurowissenschafter ist überzeugt, dass man "mit einer biologischen Herangehensweise an den Geist nach und nach auch die Geheimnisse von Kreativität und Bewusstsein lüften können" wird. Für ihn eröffnen die Fortschritte in der biologischen Erforschung des Geistes auch die Möglichkeit eines neuen Humanismus, in dem Natur- und Geisteswissenschaften verschmelzen. Dieser "neue wissenschaftliche Humanismus" werde "unsere Sichtweise für uns selbst und füreinander grundlegend verändern".

Kandel erwartet eines Tages "die biologische Bestätigung unserer Einzigartigkeit, was zu neuen Einsichten über das Wesen des Menschen, aber auch zu einem tieferen Verständnis und einer neuen Wertschätzung für unser gemeinsames und individuelles Menschsein führen werde. Je mehr wir über den ungewöhnlichen Geist wissen, desto eher sind wir als Einzelne und als Gesellschaft in der Lage, Menschen zu verstehen, die anders denken als wir, und Mitgefühl mit ihnen zu haben. Entsprechend weniger werden wir sie stigmatisieren oder ausgrenzen."

Service: Eric Kandel: "Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten", Siedler Verlag, 368 S., 30,90 Euro; ISBN: 978-3-8275-0114-1

(APA/red, Foto: APA/Siedler Verlag/Random House)

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