Coronavirus - Wie die Komplexitätsforschung in den Krisenstab kam

18. Mai 2020 - 9:59

Mathematisch-physikalische Überlegungen zur Ausbreitung einer fiktiven Epidemie in sozialen Netzwerken haben bis vor kurzem nur in Fachkreisen für gewisses Aufsehen gesorgt. Die ab 2018 von einer Gruppe um den Wiener Komplexitätsforscher Stefan Thurner erzielten Fortschritte auf diesem Gebiet sind in der Coronakrise aber zu einer wichtigen Entscheidungshilfe für die Bundesregierung geworden.

Forscher wollen helfen, Einschränkungen möglichst klein zu halten
Forscher wollen helfen, Einschränkungen möglichst klein zu halten

Der Ausgangspunkt der im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekts entstandenen Arbeiten war die Frage, wie "Ko-Evolution" in komplexen Systemen vonstattengeht, erklärte Thurner im Gespräch mit der APA. So verheerend Epidemien sein können, so anschaulich lässt sich der Prozess daran festmachen: Einerseits kann sich der Zustand der Personen verändern - von gesund, zu erkrankt und hoffentlich zu genesen -, gleichzeitig verändert sich aber auch das Netzwerk sozialer Kontakte.

"Wenn ich weiß, jemand ist angesteckt, dann trifft man denjenigen eher nicht", so Thurner. Gerade dieser Aspekt - dass es nämlich in einer Epidemie bei den Kontakten nicht so weiter geht wie zuvor und das auf die Infizierten-Zahl Auswirkungen hat - sei bisher jedoch kaum in epidemiologischen Überlegungen berücksichtigt worden. Das liege auch daran, dass dieses "Henne-Ei-Problem" mathematisch schwer fassbar ist, so der Chef des Complexity Science Hub Vienna (CSH): "Dass es ko-evolvierende Netzwerke gibt, die sich mit der epidemiologischen Situation verändern, ist relativ neu. Hier ändert sich sozusagen alles gleichzeitig."

Warnsignale für sozialen Kollaps gefunden

Ein zweiter wichtiger Punkt bei komplexen Systemen wie dem Finanzsystem ist, dass diese an Punkte gelangen können, wo sie kollabieren. Thurner und Kollegen suchten in ihrer Arbeit im Fachblatt "Physical Review E" vor fast zwei Jahren nach frühen Warnsignalen dahin gehend und fanden diese auch. Im Fall einer Epidemie stünde man vor dem sozialen Kollaps, "wenn die Leute physisch nicht mehr miteinander interagieren, weil sie alle Angst haben und sich alle in Selbstquarantäne begeben haben". Dabei handelt es sich um genau das, was heute unter den Begriff "soziale Distanzierung" in aller Munde ist.

In einer weiteren Arbeit, die im Jänner im Fachjournal "Scientific Reports" erschienen ist, drehten die Wissenschafter die Überlegungen nochmals weiter und fanden solche Hinweise sogar in Systemen, wo sie das Netzwerk selbst gar nicht kannten, sondern nur die Zustände der Teilnehmer darin. Salopp ausgedrückt wurde es in dem Fall problematisch, in dem die einzelnen Teilnehmer plötzlich sehr unterschiedlich werden. "Dann wird die Wahrscheinlichkeit rasch höher, dass in nächster Zeit das System komplett zusammenbricht", sage Thurner.

Als die Coronakrise Fahrt aufnahm kamen erste Anfragen von offiziellen Stellen bezüglich epidemiologischer Modellrechnungen an das Team vom CSH und der Medizinischen Universität Wien. Die Ideen aus der Grundlagenforschung entpuppten sich dann als überaus praxistauglich. "Nachdem wir hier auch bestens eingelesen waren, konnten wir sehr schnell Simulationen rechnen und daraus auch Prognosen ableiten", sagte der Wissenschafter. Seither erstellt das Team allwöchentlich Vorausschauen bezüglich der Fallzahlen-Entwicklung oder zur Zahl der benötigten Intensivbetten für das Gesundheitsministerium.

Worst-Case- und Best Case-Szenarien entwickelt

Im Fall von Covid-19 zeigte sich etwa rasch, dass eine gewisse soziale Distanzierung nicht wie in der ersten Arbeit, in der die Forscher vom ungleich gefährlicheren Ebola-Virus ausgingen, automatisch eintrat. Eine Erkenntnis, die zumindest zum Teil auch dazu beigetragen hat, dass Lockdown-Maßnahmen ergriffen wurden. Zudem hatte man auch relativ schnell ein Modell zur Hand, mit dem die komplexen und nicht geradlinigen Wirkung von Kontaktreduktion und Quarantäne abgeschätzt wurden. "Das ist alles andere als leicht bei einem Virus, von dem man vieles nicht weiß. Darum haben wir auch immer Fehlerintervalle zu den Prognosen ausgerechnet. Wenn man das nicht angibt, sind Prognosen oft kompletter Nonsens", betonte Thurner, der es in der Rückschau als "erfreulich" bezeichnete, dass sich die tatsächliche Entwicklung innerhalb der errechneten Fehlerbereiche abspielte.

Außerdem entwickelte man längerfristige Worst-Case- und Best Case-Szenarien. In der Phase der exponentiellen Fallzahlentwicklung konnte dann jeweils gezeigt werden, wie wahrscheinlich eine dieser Annahmen in den nächsten Tagen bis Wochen eintritt. Seit Ende März habe sich glücklicherweise gezeigt, dass es stark in Richtung des optimistischen Szenario gegangen ist. "Mit diesen Aussagen sind wir auch sehr gut gefahren", sagte Thurner.

Die aktuelle Lage mit zum Glück sehr wenigen Fallzahlen gelte es zu nutzen, um die Modelle und die Datenlage zu verbessern. Entscheidend ist das rasche und zuverlässige Erkennen und Verstehen von Ansteckungs-Clustern etwa in Unternehmen, Kultureinrichtungen oder Schulen. Dann könne man "chirurgische" Maßnahmen setzen und müsste "nicht das ganze Land, Bundesland, einen Bezirk oder eine Stadt herunterfahren. Darauf arbeiten wir gerade hin", sagte Thurner.

Service: Die Arbeiten in "Physical Review E" und "Scientific Reports": https://journals.aps.org/pre/abstract/10.1103/PhysRevE.98.042313 und https://www.nature.com/articles/s41598-020-57751-y

(APA/red, Foto: APA/APA (Punz))

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