"Business as usual": Forschung in Großbritannien trotzt dem Brexit

6. Juni 2019 - 9:59

Großbritanniens Forschungsszene stehen stürmische Zeiten bevor. Der derzeit auf 31. Oktober angesetzte Brexit bedeutet eine ungewisse Zukunft - die bestehende starke Infrastruktur werde aber das Überleben von Unis und Wirtschaft sichern, zieht Martin Leitl, Präsident des Forschungsnetzwerkes Austrian Cooperative Research (ACR), Bilanz einer Studienreise nach London und Cambridge.

"Innovation Leader" lässt sich von EU-Austritt nicht einschüchtern
"Innovation Leader" lässt sich von EU-Austritt nicht einschüchtern

Das Vereinigte Königreich (Großbritannien inklusive Nordirland) ist nach Schweden, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden die Nummer fünf am European Innovation Scoreboard und somit ein "Innovation Leader", dabei investieren sie jährlich nur 1,7 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes in Forschung und Entwicklung (F&E). In Österreich, wo mit jährlich rund 3,2 Prozent fast das Doppelte investiert wird, schafft man es trotzdem nur auf Platz zehn und ist somit ein "Strong Innovator".

Wieso ist der britische Output so viel größer als ihr Input? Zusammenarbeit und Freiheit, das sind die zwei Kernpunkte, auf die es hinauszulaufen scheint. Den Unterschied zum österreichischen Innovationssystem sieht Leitl vor allem in "der Offenheit, die man hier an allen Ecken und Enden spürt". Auf Wirtschaft und Industrie werde hier aktiv zugegangen. "Diese Offenheit vermisse ich zum Teil in Österreich. Am Geld mangelt es bei uns nicht, es ist die Durchlässigkeit in unserem System - und die hat mich hier beeindruckt."

Universitäten als Stützpfeiler der Innovation

Wichtiger Stützpfeiler der Forschung und Entwicklung des Vereinigten Königreichs sind die Universitäten. Beim "Times Higher Education World University Ranking 2018" schafften es gerade einmal vier europäische Unis unter die besten zehn - drei davon aus England; die University of Oxford, die University of Cambridge sowie das Imperial College London. Zum Vergleich: Die ETH Zürich landete auf Platz zehn, die Universität Wien erreichte als beste heimische Uni gerade einmal einen bescheidenen 143. Platz. "Dabei ist das staatliche Investment in die Universitäten gering", erklärte ACR-Sprecherin Rita Kremsner. Sie würden sich ihr Geld stattdessen auf anderen Wegen holen, etwa durch starke Kollaboration mit Unternehmen.

Cambridge setzt auf freie Forschung

Der Ansatz, aktiv auf mögliche Partner aus der Wirtschaft zuzugehen, begann in den 80er-Jahren, als der Ölkonzern British Petroleum (BP) seine Forschung an Universitäten auslagerte. Ganz vorne dabei in Forschung und Innovation ist die University of Cambridge, Nummer zwei im weltweiten Universitätsranking. Hier setzt man vor allen Dingen auf eines: Freiheit. "Wir rekrutieren die besten Akademiker der Welt, und geben ihnen die Freiheit, zu tun was sie wollen", heißt es seitens der Universität. Eigene Institute sind dafür zuständig, Akademiker und externe Industrie-Partner verschiedener Fachbereiche, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind, zusammenzubringen und sie in ihrer Kooperation zu unterstützen.

Die Forschung an der Universität Cambridge wird gerne mit einem Dschungel verglichen. Im Gegensatz zu geordneten Palmenplantagen, wo die Ernte (in diesem Fall der wissenschaftliche Output) regelmäßig eingefahren werden kann, herrsche chaotische Freiheit, die oft überraschende Erfolge hervorbringe. Professoren müssten weniger Zeit in die Lehre investieren, seien freier in der Wahl ihrer Projekte, könnten unbeschränkt Firmen gründen und in ihrer beratenden Tätigkeit nicht limitiert.

Fleiß und Faulheit führen zum Erfolg

Das System scheint sich auszuzahlen: Seit 1904 gingen bereits 107 Nobelpreise an Angehörige der Universität Cambridge, die Patentanmeldungsquote (pro Einwohner) ist die höchste des gesamten Landes. Der Innovationseifer ist zum Teil auf den Wettbewerb zwischen den 31 Colleges der Universität zurückzuführen. Hier werden die Bachelorstudierenden untergebracht, hier erhalten sie Tutoring in Kleingruppen. Die Zugehörigkeit zu einem Team, fast schon einer Familie, spornt zu hohen Leistungen an, erklärte Florin Udrea, Professor für Semiconductor Engineering.

Ab und zu ist es aber nicht der Fleiß, der geistige Leistung hervorbringt, sondern ausgerechnet die Bequemlichkeit: So entstand in Cambridge beispielsweise die erste Webcam der Welt - und zwar weil ein Forscher es satthatte, den Weg aus einem weit entfernten Gebäudeteil in die Küche zu gehen, nur um dann vor einer leeren Kaffeekanne zu stehen. Er entwickelte eine Webcam, die den Füllstand der Kaffeemaschine zeigte und über das Internet abgerufen werden konnte.

Außerdem bietet Cambridge ein sicheres Umfeld, um zu forschen, denn in unmittelbarer Nähe zur Uni gibt es eine dicht gedrängte Ansammlung von Unternehmen. Der Cambridge Science Park umgibt die Universität in einem 25-Meilen-Radius und beherbergt mehr als 120 Betriebe, von universitären Spin-offs bis zu nationalen und internationalen Betrieben. Wenn es also mal mit einem Start-up nicht klappt, versucht man sein Glück eben woanders. Trotz seiner geringen Größe zählt die University of Cambridge so zu den Besten der Welt.

Marktorientierte Spin-offs am Imperial College

Ebenfalls unter den weltweiten Top Ten ist das Imperial College London. Ursprünglich wurde an der technischen Hochschule Studium und Forschung in den Bereichen der Medizin, Ingenieur- und Naturwissenschaften betrieben, 2003 wurde sie um eine Fakultät für Wirtschaft ergänzt. Dahinter steht der Gedanke, das geistige Potenzial der Universität besser zu Geld machen zu können. Bei der Entwicklung von Spin-offs wird speziell auf die Nachfrage des Marktes geachtet. Die Universität investiert Geld nur in Ideen, die tatsächlich gebraucht werden. Student Entrepreneurship ist am Imperial College ein wichtiges Stichwort: Die Rechte am geistigen Eigentum liegen bei den Studenten selbst, nicht wie oft üblich bei der Universität; ein Faktor, der Innovationskraft und -willen sicherlich keinen Abbruch tut. Seit 2013 wurden hier rund 130 Start-ups von Studenten gegründet, von 2017 bis 2018 waren es 41.

An diesen und anderen Hochschulen des Landes ist die Anzahl ausländischer Studierender wie Forschender hoch. Wenn bzw. falls der Brexit kommt, wird sich ein gewisser "Brain Drain" ins Ausland nicht abwenden lassen, mutmaßt Peter Pesl, Delegierter der Wirtschaftskammer Österreich für das AußenwirtschaftsCenter London. Der Anteil internationaler Forscher und Studenten ist hoch. Aktuell richten sich die Studiengebühren für Studierende aus dem europäischen Raum noch nach dem EU-Tarif - im Falle eines Austritts würden sie sich aber möglicherweise verdreifachen, was viele andere Destinationen als Studienland plötzlich attraktiver machen könnte.

Eine ungewisse Zukunft

Zurzeit sind zu viele Variablen noch ungeklärt für einen klaren Blick in die Zukunft. Wann wird der Austritt aus der EU stattfinden? Zurzeit ist der 31. Oktober als Datum angegeben, der Termin wurde in der Vergangenheit aber schon mehrmals verschoben. Wie wird er stattfinden? Kommt es zu einem "Hard-Brexit", einer der vielen "Soft-Brexit"-Varianten, oder zieht das Vereinigte Königreich den Antrag vielleicht doch noch rechtzeitig zurück? Zu viele Fragen und zu wenig Antworten, wie es scheint. "Es ist schwierig, sich vorzubereiten, wenn man nicht weiß, worauf man sich vorbereitet", erklärte Pesl. Für Österreich bedeute der Brexit jedenfalls keinen Weltuntergang. Zurzeit sind 250 österreichische Niederlassungen registriert. Der Großteil wird bleiben, ist Pesl überzeugt. Österreichische Firmen seien für den britischen Markt da, also würden sie zum Großteil auch bleiben.

Trotz oder wegen der allgemeinen Ungewissheit wird auch in der Wissenschaft Gelassenheit demonstriert. Statt jeden Satz mit "vielleicht", "möglicherweise" und "eventuell" zu beginnen, vertrauen die britischen Forscher lieber auf die Stärke ihrer Institutionen. "Unsere Strategie bisher war, den Brexit zu ignorieren", nimmt Cambridge-Professor Udrea die Sache mit Humor. Man habe Kriege überlebt, erklärte er, man werde auch den Brexit überleben. Und bis dahin? "Business as usual."

(Die Studienreise erfolgte auf Einladung von ACR)

(APA/red, Foto: APA/Hartmuth Schröttner/ZFE Graz)

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