80 Jahre Kernspaltung - Experte sieht "Mythos der Zufallsentdeckung"

21. September 2018 - 10:59

80 Jahre nach Entdeckung der Kernspaltung herrscht vielerorts die Meinung, dass die Welt von den Erkenntnissen Otto Hahns und der aus Österreich vertriebenen Physikerin Lise Meitner unvorbereitet getroffen wurde. In der Wissenschaft gab es laut dem Technikfolgenforscher Wolfgang Liebert aber bereits davor namhafte Mahner. Der "Mythos der Zufallsentdeckung" sollte demnach hinterfragt werden.

Hahn und Meitner entdecken vor 80 Jahren die Kernspaltung
Hahn und Meitner entdecken vor 80 Jahren die Kernspaltung

"Ich vertrete hier eigentlich eine 'Nicht-Common-Sense-Meinung'", so der Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften (ISR) der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien im Gespräch mit der APA. Die Kernspaltung sei nicht unbedingt "als große Überraschung über uns gekommen". Dieses tradierte Bild sollte anlässlich des am 17. Dezember bevorstehenden 80-Jahr-Jubiläums der bahnbrechenden Entdeckung in Berlin neu überdacht werden. "Es gibt sehr starke Indizien dafür, dass das eigentlich ein Mythos ist", sagte der Physiker, der darüber im Rahmen des "9. Wiener Nuklearsymposiums" einen Vortrag hält.

Mit dem "wohlfeilen Argument" der Zufallsentdeckung lebe es sich jedenfalls vielerorts ganz gut. Wenn etwas "wie ein Naturereignis einfach so über uns gekommen ist", lasse sich auch die Verantwortlichkeit ein Stück weit wegschieben, sagte Liebert. Er verweist auf den intensiven Forschungsprozess, der letztendlich in der Entdeckung gipfelte.

Problematik der Kettenreaktion erkannt

Bereits in den Jahren 1933 bis 1935 "haben manche ganz klar gesehen, was da auf die Physik und die Welt zukommt". Die Problematik der Kettenreaktion wurde erkannt, es gab auch bereits Diskussionen darüber, wie die enorme Energiefreisetzung entweder explosiv oder vielleicht kontrolliert ablaufen könnte.

Eine der gewichtigsten Stimmen war demnach der aus Ungarn und aus Deutschland emigrierte stammende US-Physiker und Molekularbiologe Leo Szilard, der sich als einer der Ersten "intensiv mit der Kettenreaktion auseinandergesetzt, mit sehr vielen Wissenschaftern geredet und Patente angemeldet hat, um diese sich abzeichnende Möglichkeit irgendwie unter Kontrolle zu bringen". Szilard wurde dann vor allem als einer der Verfasser jenes Einstein-Briefes von 1939 an US-Präsident Theodore Roosevelt bekannt, der als einer der wichtigsten Impulse für den Bau der ersten Atombomben im Rahmen des "Manhattan-Projekts" gilt. Auslöser dafür war die Befürchtung, dass die Nazis ähnliche Pläne verfolgten. Obwohl selbst am "Manhattan-Projekt" beteiligt, versuchte Szilard den Einsatz der Bomben später zu verhindern.

Als beispielsweise Frederic Joliot 1935 zusammen mit seiner Ehefrau Irene Joliot-Curie den Nobelpreis für Chemie entgegennahm, habe auch er bereits warnende Aussagen zur kommenden Kernspaltung und deren Folgen getätigt. Liebert: "Das ist unüberhörbar. Dass die Physiker nicht wissen, was eines ihrer Idole bei der Nobelpreisrede sagt, kann man einem ja eigentlich nicht weismachen."

Nicht alles ganz und gar überraschend

Wie breit die Diskussion in Fachkreisen damals geführt wurde, lasse sich aus heutiger Sicht schwer abschätzen. Mit der Ausbreitung des Faschismus in vielen Staaten und dem danach beginnenden Zweiten Weltkrieg "war die Diskussion eigentlich auch nicht mehr möglich", so der Risikoforscher. Mit dem Ausbleiben wissenschaftlicher Publikationen dazu ab Ende 1939 blieb vieles im Dunkeln. "Das Gespür dafür, was da auf uns zukommt, hatten natürlich manche mehr und manche weniger", es sei aber stark zu bezweifeln, dass "alle ganz und gar überrascht worden sind".

Aus dieser hartnäckigen Lesart der Geschichte lasse sich auch heute einiges lernen, etwa in Bezug auf die Diskussion um den Einsatz neuer erbgutverändernder Verfahren. Wenn es nun um die Freisetzung der "mutagenen Kettenreaktion" gehe - also einer gezielten Genveränderung, die sich lawinenartig in der Natur ausbreiten kann, stehe man aktuell vor einer ähnlichen Situation. Liebert: "Aber wir können und müssen jetzt darüber reden." Das Einfangen solcher Technologien, nachdem sie in der Welt sind oder die Natur massiv verändern, sei nämlich "fast unmöglich", wie sich am Beispiel der Kernwaffen zeige: "Die haben wir seit 1945 und sie wurden bisher leider nicht wieder weggezaubert."

Service: http://www.nuklearsymposium.at

(APA/red, Foto: APA/APA (dpa))

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