1938/2018 - Zeitzeuge: "Wo man hingeschaut hat, waren bei uns Nazis"

21. Dezember 2017 - 14:55

An die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg hat Hugo Brainin großteils gute Erinnerungen: Es sei im Wesentlichen eine friedliche Zeit gewesen, sagte der 1924 in Wien geborene Zeitzeuge gegenüber der APA. Im Interview erinnert sich Brainin an den Ständestaat, an das Novemberpogrom nach dem "Anschluss" an Nazi-Deutschland und die Nachkriegszeit - in der ihm Ex-Nazis in hohen Positionen begegneten.

Zeitzeugen Lotte und Hugo Brainin am 18. Dezember 2017 in Wien
Zeitzeugen Lotte und Hugo Brainin am 18. Dezember 2017 in Wien

Unter Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hätten die Kinder von der Schule aus ins Stadion gehen müssen, wo große Kundgebungen stattfanden, erzählte Brainin. "Man hat Abzeichen mit der Aufschrift 'Seid einig' bekommen und - Dollfuß war schon tot - es gab ein Lied: 'Ihr Jungen, schließt die Reihen gut, ein Toter führt uns an, er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann.' Das hat uns aber nicht weiter tangiert."

Nur seien damals mit der Zeit die Nazis groß geworden. "Es war nicht so, dass der Hitler einmarschiert ist. Die Machtergreifung durch die Nazis ist von Österreich aus erfolgt", sagte Brainin, der am 11. März 1938 Schuschniggs Abschiedsrede im Radio hörte. "Er hat gesagt: 'Gott schütze Österreich', dann wurde der zweite Satz vom 'Kaiserquartett' von Haydn gespielt, und damit war der Fall erledigt."

Flucht nach Großbritannien

Seine Familie habe sofort erkannt, dass man weg müsse. "Es war klar, dass wenn die Nazis an die Macht kommen, das nichts Gutes bedeutet", erzählte der 93-Jährige. Für die Brainins habe die Möglichkeit bestanden, nach Großbritannien zu flüchten, da nach der Machtergreifung der Nazis das Zentrum des Rohfellhandels, in dem die Familie engagiert war, von Deutschland nach London verlegt wurde und ein Onkel dorthin übersiedelte war.

Im Februar 1938 fuhr ein weiterer Onkel nach London, um dort einzukaufen. "Dann hieß es: Schuschnigg hat zu einer Volksabstimmung aufgerufen", erzählte Brainin. "Beide haben in London überlegt, ob sie nicht schnell nach Wien kommen sollen, um gegen die Nazis und für ein unabhängiges Österreich zu stimmen." Aber zum Glück sei es zu spät gewesen, und sie haben in London bleiben müssen. So konnten sie später dem Rest der Familie helfen: Zwei Tanten und sieben Kinder kamen nach einer Schiffsreise am 24. Dezember 1938 in London an. "Ein privater Kindertransport", erinnerte sich Brainin, der seinen Vater im Alter von sechs Jahren und seine Mutter im Jänner 1938 verloren hatte.

Aus diesem Grund habe er sich in der Reichspogromnacht im Tempel in der Pazmanitengasse im zweiten Bezirk aufgehalten: Bei den Juden sei es nämlich üblich, dass die männlichen Nachkommen ein Jahr lang täglich in der Synagoge das Totengebet sagen, erklärte Brainin, der sich heute als "orthodoxen Atheisten mit jüdischen Wurzeln" betrachtet. "Am 9. November 1938 sind vorne etliche Radaubrüder und Horden hereingekommen und haben das Haus angezündet. Mein Bruder und ich sind hinten raus und nach Hause gelaufen, unbehelligt. Das ist ein Schlüsselerlebnis gewesen für uns."

In Großbritannien wurde Brainin als Flüchtling anerkannt: "Admitted to the United Kingdom as refugee from Nazi oppression" habe in seiner Identitätskarte gestanden. "Wenn damals solche Einwanderungsgesetze geherrscht hätten wie jetzt bei uns, würden wir hier nicht sitzen. Dann wäre ich höchstwahrscheinlich wie die meisten anderen in einem Ofen gelandet, in Auschwitz oder sonstwo", sagte Brainin, der in Großbritannien als Schlosser und technischer Zeichner gearbeitet hat.

Interesse an Politik begann während des Krieges

Während des Krieges begann er, sich politisch zu interessieren: "Für uns war die Hoffnung, dass die Sowjetunion erfolgreich ist und die Nazis zurückdrängt." Dies sei mit ein Grund dafür gewesen, dass er bei der englischen kommunistischen Partei gelandet sei. Was sich in der Sowjetunion tatsächlich abgespielt habe, habe er nicht gewusst.

Nach dem Krieg war für ihn klar, dass er zurück nach Österreich gehen werde, um die Kommunistische Partei aufzubauen. Nach seiner Rückkehr 1946 arbeitete er unter anderem bei der Firma Waagner-Biro und traf viele ehemalige Nationalsozialisten in hohen Positionen an: "Wo man hingeschaut hat, waren bei uns Nazis, haben gute Posten gehabt und alles beherrscht."

Unter seinen Arbeitskollegen habe es auch uneinsichtige gegeben: "Manche sahen sich als Helden und nicht als Vertreter einer 'Wehrmacht', die eine Vernichtungspolitik in ganz Europa verteidigt." Die meisten seiner Arbeitskollegen hätten aber umgedacht: "Vor dem Krieg haben alle die arischen Großmütter gesucht, nach dem Krieg haben alle die jüdischen Großmütter gesucht", sagte Brainin.

Er selbst habe in Österreich doppelt Glück gehabt: "Nämlich, dass es mir nicht gelungen ist, den Sozialismus aufzubauen, und dass ich meine Frau kennengelernt habe." Brainin ist seit 1948 mit der heute 97-jährigen Widerstandskämpferin und Auschwitz- und Ravensbrück-Überlebenden Lotte Brainin (geborene Sontag) verheiratet. Beide waren als Zeitzeugen sehr aktiv.

Der Tag der Angelobung der neuen Bundesregierung ist auf den 69. Hochzeitstag von Hugo und Lotte Brainin gefallen: "Was soll ich machen", sagt Brainin dazu. "Wir haben nichts Gutes zu erwarten in nächster Zeit." Politik auf Kosten der Schwächsten treibe diese seiner Meinung nach in die Hände der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen: "In Deutschland war es genauso, im 33er-Jahr."

Für Österreich wünsche er sich eine friedliche Zukunft und dass "alle Menschen die Möglichkeit haben, ein zufriedenes Leben zu führen und ein ausreichendes Einkommen zu haben, damit jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten tun kann, was er will, so lange er andere nicht damit belastet."

(Das Gespräch führte Gisela Linschinger/APA)

(APA/red, Foto: APA/APA (Linschinger))

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