Der Wunsch nach Nullrisiko und die unterschätzte vertraute Gefahr

19. Dezember 2017 - 9:10

Die Bevölkerung nimmt Risiken und Gefahren ganz anders wahr als Experten: Tatsächliche Gefahren werden grob unterschätzt, vernachlässigbare Risiken hingegen bereiten den Menschen Sorgen. Das hat zuletzt wieder das Risikobarometer, eine von der Agentur für Ernährungssicherheit und Gesundheit (AGES) und Umweltbundesamt in Auftrag gegebene Umfrage, gezeigt. Mit einem massiven Ausbau der Kommunikation auf vielen Ebenen will man auf diese Diskrepanz reagieren.

Auch Konsumenten tragen Verantwortung, angefangen beim Einkaufen
Auch Konsumenten tragen Verantwortung, angefangen beim Einkaufen

"Wir wollen vor allem einmal ein Bewusstsein über die tatsächlichen Risiken schaffen", sagte Ingrid Kiefer, Leiterin des Fachbereichs Risikokommunikation bei der AGES, im Gespräch mit APA-Science. Denn schätzen Experten beispielsweise pathogene Mikroorganismen (Anm.: Bakterien oder Pilze, die direkt durch Infektion oder durch in Lebensmitteln produzierte Toxine Krankheiten auslösen können) als hochriskant ein, bis hin zur Gefahr von Todesfällen, sind die Konsumenten hier kaum beunruhigt. "Natürlich sind unsere heimischen Lebensmittel sehr sicher, und die Selbstkontrolle bzw. Kontrolle im Unternehmensbereich und Handel funktioniert gut", so die Expertin. Ab einem bestimmten Punkt gehe die Verantwortung jedoch auf den Konsumenten über, und der müsse wissen, dass er zur Sicherheit noch einiges beitragen könne: "Es fängt beim Einkaufen an, geht weiter bis zu persönlicher Hygiene und der richtigen Zubereitung."

Was ich weiß, macht mich nicht heiß

Ein Risiko, das bekannt ist, das man selber beeinflussen kann oder das erst verzögert wirksam wird, werde immer unterschätzt, meint die Expertin und verweist etwa auf Schimmelpilzgifte. "Mykotoxine sind nichts Neues. Aber jeder denkt, er könne das Risiko selbst steuern und den Schimmel einfach wegschneiden." Erst mit zeitlicher Verzögerung würden sich Auswirkungen zeigen. Auch fehlen akute Ereignisse mit Schimmelpilzgiften, die Medienpräsenz des Themas ist gering - in Summe führt all dies dazu, dass das Risiko unterschätzt wird.

Der gleiche Effekt tritt laut Kiefer bei der Fehl- und Überernährung auf. Man weiß zwar, wie man sich ernähren soll, ignoriert die Empfehlungen aber, "weil es mir halt schmeckt". Wer zu viel oder falsch isst, wird eben nicht sofort übergewichtig oder erleidet unmittelbar einen Herzinfarkt. Im Gegensatz zu den Mykotoxinen sei dieses Thema in den Medien immer wieder präsent, aber mit widersprüchlichen Botschaften, wie Trends rund um Diäten zeigten. "Das lässt die Konsumenten ratlos zurück."

Vor anderen Dingen wiederum mit sehr geringem tatsächlichem Risiko würden sich die Leute hochgradig fürchten - laut Risikobarometer sind dies Terrorismus, Migration und Kriminalität. Die Akzeptanz für ein Risiko steige auch nicht mit dem Grad der Information. Ebenso wenig könnten Belehrungen oder Überzeugungen Ängste und Befürchtungen der Menschen verringern.

Solange alles funktioniert, fehlt Problembewusstsein

Nur geringes Kopfzerbrechen bereitet der Bevölkerung auch die Energieversorgung, erklärt Karl Kienzl, stellvertretender Geschäftsführer des Umweltbundesamts. "Dabei geht es um Klimaschutz, um die Emission von Treibhausgasen, darum, wie viel Energie wir verbrauchen, wie und wo wir Energie produzieren und über welche Leitungen sie transportiert wird, wo sie gespeichert werden soll und welche Möglichkeiten dafür es überhaupt gibt", führt der Fachmann aus. Weil der Strom aber aus der Steckdose komme und die Energieversorgung ja ohnehin funktioniere, fehle das Risikobewusstsein vollkommen. Dass es in Europa zu keinem Blackout komme, sei aber nicht selbstverständlich.

"In Europa ist das wirklich ein riesiges Thema, auch in Hinblick auf die Erneuerbaren", gibt Kienzl zu bedenken. Durch den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen gibt es viele kleine, dezentrale Produzenten von erneuerbarer Energie, die über Leitungen miteinander verbunden werden müssen. "Aber gleichzeitig wehrt sich die Öffentlichkeit etwa gegen eine Starkstromleitung, weil sie halt nicht schön aussieht", stellt er fest.

Beim Thema Flächenverbrauch und Bodenversiegelung - täglich werden in Österreich 14,7 Hektar an Boden zusätzlich verbaut - habe man mittlerweile eine relativ starke Aufmerksamkeit erreicht. "Die Hoffnung ist, dass diese Risikowahrnehmung dann letztendlich auch zu einer stärkeren Änderung des persönlichen Verhaltens führt." Welche letztlich die Politik einleiten müsste: Wo das Gemeinwohl verteidigt werden muss, braucht es gesetzliche Vorgaben.

Bildsprache auf Zielgruppen abstimmen

Die AGES-Experten wollen nun austesten, mit welchen neuen Medien und welcher Form der Digitalisierung die Menschen stärker erreicht werden können. Auch die unterschiedlichen Zielgruppen wolle man viel gezielter ansprechen. Im Rahmen des Risikobarometers wurden fünf Risikotypen identifiziert: Die Arglosen, die Unbelehrbaren, die Braven/Folgsamen, die Besorgten und die Sprunghaften.

Priorität habe daher, Themen spezifisch für jede Gruppe aufzubereiten. Der Trend gehe in Richtung Bildsprache: "Wir brauchen Videos und Kurzinformationen gerade für die jungen, eher sorglosen Menschen, die sich viel im Internet bewegen." Die zwei größten Risikogruppen stellen die Sprunghaften und die Besorgten. Sie sind hochgradig beunruhigt, ändern nach Risikoberichten ihr Verhalten auch kurz, fallen aber bald wieder in alte Muster zurück. Es sei eine Überlegung, bei diesen Zielgruppen als erstes anzusetzen, weil man damit bereits einen Großteil der repräsentativ Befragten abdecken könne. "Bei ihnen steht Vertrauensbildung ganz im Vordergrund. Um ihr Verhalten langfristig zu ändern, brauchen sie praktische Verhaltenstipps für die Vermeidung von tatsächlichen Risiken, also ganz konkrete, leicht umsetzbare Handlungsanleitungen", überlegt die Expertin.

Spezielles Augenmerk legt die Kommunikationschefin auf neue Wege, Kinder und Jugendliche anzusprechen. "Wir erwägen, sie mit Lernvideos oder webbasierten Schulungen, die auch für den Unterricht geeignet sind, bereits in der Schule zu erreichen", so die Expertin.

"Wenn über Risiken gut - und objektiv, was natürlich eine Herausforderung ist - informiert wird, dann nehmen die Menschen das wahr", ist Kienzl überzeugt. Die Bereitschaft für eine dauerhafte Verhaltensveränderung ist dem Risikobarometer zufolge im Zehn-Jahres-Vergleich gestiegen. "Bei den Frauen hat sich der Wert verdoppelt, aber auch bei den Männern hat er zugelegt: Ein Drittel der Befragten verändert sein Verhalten dauerhaft und ein Drittel wenigstens eine Zeit lang." Generell plädiert er dafür, die Bevölkerung über Risiken so zu informieren, dass sie adäquat reagieren kann und Panik möglichst vermieden wird.

Journalisten besser briefen

Ein Rädchen, an dem man bereits zu drehen begonnen habe, sei die Suchmaschinenoptimierung (SEO). "Das werden wir fortsetzen. Wir wollen, wenn ein Thema präsent ist, bei der Suche ganz oben aufscheinen." Um Gehör zu finden, braucht es natürlich auch die klassischen Medien. "Sie sind für uns ein wichtiger Partner und Multiplikator - gerade, wenn ein Risikothema wie eine Produktwarnung schnell und effektiv verbreitet werden oder man spezielle Tipps zum Schutz weitergeben muss", so die AGES-Fachfrau.

Das größte Vertrauen haben Konsumenten laut Risikobarometer in die Wissenschaft, das Schlusslicht bildet die Politik. Gesunken ist auch das Vertrauen in die Medien, das müsse man wieder stärken. Journalisten unterscheiden sich in der Risikoeinschätzung übrigens nicht vom Rest der Bevölkerung, sie teilen also nicht die Expertenmeinung. "Daher wollen wir stärker als bisher für Hintergrundgespräche zur Verfügung stehen und den Dialog in weit größerem Maße fördern", so Kiefer. Presseaussendungen zu verfassen sei zu wenig.

Auch die Risikowahrnehmung will man bei der AGES noch gezielter erfassen. "Wir werden beispielsweise Kommentare unter Online-Artikeln im Auge behalten, weil hier einfach auch Meinung gebildet wird und wir sehen, welche Themen die Menschen bewegen. Was wir in Form einer Aussendung ausgeben, ist zudem nicht immer ident mit dem, was dann im Artikel zu lesen ist", spricht Kiefer einen weiteren Aspekt an.

Keinen wissenschaftlichen Diskurs über die Medien führen

Zu viel Transparenz ist offenbar aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Sache sei es nicht unbedingt dienlich, wenn ein wissenschaftlicher Diskurs über die Medien geführt werde. "Man hat dann den Eindruck, die Wissenschaft ist sich selber nicht sicher - und das führt dann bei den einen zur Unterschätzung des Risikos, und die anderen fürchten sich."

Die AGES gehe den Weg, wissenschaftliche Diskussionen im Dialog mit anderen Stakeholdern zu führen, "nicht über die Medien, sondern gern im Haus." Das habe den Vorteil, dass man sich unterschiedliche Sichtweisen im Detail anschauen könne. "Oft hakt es an der Auslegung, dem Wording oder Framing. Es soll ein rationaler Diskurs stattfinden, an dessen Ende wir eine gemeinsame Botschaft weitergeben können", so Kiefer.

Erklärtes Ziel der Expertin ist jedenfalls, verständlich zu bleiben. "Die Herausforderung ist, dass Experten und Laien völlig unterschiedliche Risikokonzepte haben. Ein Experte wird immer Risiko und Nutzen gegenüberstellen: er arbeitet evidenzbasiert und mit wissenschaftlicher Bewertung. Es gibt Risikovergleiche, er nimmt als Maß einen Durchschnittsmenschen und akzeptiert ein Restrisiko. Der Laie hingegen bewertet intuitiv, meinungs- und gefühlsbasiert, hat eine persönliche Betroffenheit und ganz andere Voraussetzungen: er will Sicherheit und null Risiko. Das objektive Risiko gibt es bei ihm nicht."

Mut zur Nachhaltigkeit

Vor zehn Jahren hat das Umweltbundesamt den "Risikodialog" ins Leben gerufen, eine Plattform, die Dialoge zwischen Politik und Verwaltung sowie Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Medien, aber auch Wirtschaft führt und "Handlungsräume für Politik und Unternehmen aufzeigt", so Kienzl. Im Risikodialog werden Themen in individuell entwickelten Dialogformaten behandelt: Sie reichen von öffentlichen Informationsveranstaltungen im Radiokulturhaus bis hin zu geschlossenen Dialogrunden zu spezifischen Fragestellungen.

Die rund 500 Experten des Umweltbundesamts aus mehr als 55 Disziplinen arbeiten Kienzl zufolge in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien zu Umweltthemen mit. Mit ihrer Expertise will die Institution evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen für Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft liefern.

Mit der Reihe "Mut zur Nachhaltigkeit" richtet sich das Umweltbundesamt ganz bewusst an eine breite Öffentlichkeit und will Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Wenn man über Nachhaltigkeitsziele, Klimawandel oder Jugendbeteiligung spreche, sei es notwendig, auch ein Bewusstsein bei den Konsumenten zu erzeugen. "Denn sie beeinflussen mit ihrem täglichen Verhalten und ihrem Lebensstil die Umwelt sehr stark oder eben weniger stark", erläutert Kienzl. Aus diesem Grund beschäftigt sich das Umweltbundesamt auch mit Perspektiven für die Gesellschaft. Denn, so der Experte: "Verhaltensänderungen sind in dem Bereich extrem wichtig. Die Menschen müssen erkennen, welche Auswirkungen ihr Lifestyle gesellschaftspolitisch hat, nicht nur aus Umweltsicht."

Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science

(APA/red, Foto: APA/APA (dpa))

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