Wissenschaftliche Ergebnisse akzeptieren, auch wenn sie nicht ins Weltbild passen

22. November 2017 - 8:40

Sichere Ernährung ist heute für Europas Verbraucher eine Selbstverständlichkeit. Durch die Schaffung der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) und ihrer nationalen Partneragenturen vor 15 Jahren konnten Risikomanager erstmals Entscheidungen treffen, die auf wissenschaftlichen Fakten basierten. Doch das Vertrauen in die Wissenschaft ist angeknackst. Wie sie dieser Problematik begegnen und wo die künftigen Herausforderungen liegen, darüber sprachen EFSA-Direktor Bernhard Url und Wolfgang Hermann, Geschäftsführer der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), mit APA-Science.

Mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert: Hermann (li.) und Url
Mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert: Hermann (li.) und Url

Das schwindende Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft und Fake News sehen die beiden Experten mit Sorge. "Natürlich liefert Wissenschaft immer nur eine Annäherung an gewisse Phänomene und kann keinen Anspruch an die alleinige Wahrheit stellen. Trotzdem gibt es keine Alternative zu einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, denn sie hat unglaublich positive Effekte für die Menschheit hervorgebracht, sei es in der Medizin oder der Technik", betont Url.

Reagieren könne die Wissenschaft auf Skepsis nur mit einer Transparenz-Offensive. Auf der Website seiner Behörde würden, ganz im Sinne von Open Science und Open Data, alles Datenmaterial, Hintergründe, Methoden, die engagierten Experten und ihre Interessensdeklarationen offengelegt. "Wir sehen allerdings auch, dass Transparenz alleine nicht ausreicht, um das Vertrauen zurückzugewinnen."

Wissenschaft brauche Beteiligung, damit sie (wieder) stärker im Zentrum der Gesellschaft verankert werde, lautet das Credo. "Notwendig ist eine partizipative Vorgangsweise", ist Url überzeugt. Seine Behörde gehe mit dem sogenannten Stakeholder-Ansatz neue Wege und startet etwa bei der Erarbeitung von wissenschaftlichen Leitlinien bereits sehr früh einen solchen Prozess in Form einer öffentlichen Anhörung. "Dabei diskutieren wir mit den Universitäten, Forschern, Wissenschaftern, aber auch der Gesellschaft als Ganzes die Breite der Fragestellung oder ob wir Dinge übersehen haben, die berücksichtigenswert wären." Der Prozess habe sich bewährt. "Die Beteiligung stellt sicher, dass wir relevante Fragen in der richtigen Breite behandeln. Außerdem erhalten wir dadurch zusätzlichen Input an Wissen. Und nicht zuletzt wird die Akzeptanz für Entscheidungen größer", so Url.

"Korrektiv" zu Fake News

Als "Korrektiv" zu Fake News sieht AGES-Chef Hermann seine Agentur. Die eingehende wissenschaftliche Bewertung und Datentransparenz sei eine Grundvoraussetzung, um das Vertrauen der heimischen Bevölkerung nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen. Man suche den Dialog mit den Menschen, sei es über eine App zu Produktwarnungen oder die zielgruppenorientierte Risikokommunikation. Auch Dialog-Foren und der fachliche Austausch entlang der Wertschöpfungskette, vom Produzenten bis zum Umweltschützer, gehören zum Selbstverständnis.

2016 gab es bei Lebensmittel-Planproben in Österreich 0,3 Prozent Beanstandungen, was relativ wenig ist. "Dank eines wissenschaftlichen, risikobasierten Ansatzes führen wir gezielte Kontrollen so früh wie möglich durch", erklärt Hermann. Hat es ein schädliches Lebensmittel ins Verkaufsregal geschafft oder werden erkrankte Menschen in den Überwachungsprogrammen diagnostiziert, "ist es eigentlich bereits zu spät". Deshalb sei die enge Zusammenarbeit mit Kontrollbehörden und Unternehmen, die den Großteil der Kontrollen selbst vornehmen, so wichtig. Hermann: "Wir kontrollieren die Kontrolle".

Gefühlte Risiken und echte Risiken

Lebensmittel sind dank immer besserer Analyse- und Risikomethoden objektiv betrachtet so sicher wie nie. Diese Wahrnehmung habe sich jedoch nicht zuletzt durch die häufigere Berichterstattung über Lebensmittel-Rückrufe - de facto gibt es seit Jahren im Schnitt 42 Warnungen pro Jahr - verändert. "Und während Verbraucher sich über hormonähnliche Stoffe in Lebensmitteln und Kosmetik, Antibiotikarückstände und Chemie in der Landwirtschaft den Kopf zerbrechen, liegen die von unseren Experten identifizierten echten Risiken ganz woanders: Nämlich bei krankmachenden Keimen, Antibiotika-Resistenzen und Ernährungsrisiken", verweist Hermann auf das aktuelle Risikobarometer Umwelt & Gesundheit.

"Wir müssen die relevanten gesundheitlichen Fragen und Antworten in Sprache und Emotion so aufzubereiten, dass die Botschaften verstanden werden und auch danach gehandelt werden kann", meint Hermann und nennt als Beispiel das Thema Fehl- und Überernährung. "Hier fühlen sich die Österreicher sehr gut informiert, was aber nichts an ihren Handlungsweisen ändert." Informationsbedarf sieht der Wissenschafter auch hinsichtlich Umweltrisiken, Bodenverbrauch und Folgen des Klimawandels. "Immer weniger Menschen müssen auf immer weniger Fläche die Nahrungsmittel für die Weltbevölkerung erzeugen. Das erfordert Innovationen wie standortangepasste, umweltbewusste Produktions- und Bewirtschaftungssysteme oder Pflanzen, die Hitze und Trockenheit überstehen", betont Hermann.

Glyphosat: Ein Stellvertreter-Konflikt

Wenn Fakten und Fiktion vermischt werden, kann der Einzelne kaum noch beurteilen, wie relevant Informationen sind oder ob sie ein akkurates Bild eines tatsächlichen Risikos zeichnen. So nennt EFSA-Direktor Url als Beispiel für den Konflikt zwischen Wissenschaft und Werten etwas das Thema Glyphosat. Hier wurde eine Wertediskussion - wie soll Landwirtschaft in Europa aussehen? - zu einer Sicherheitsdebatte - ist die Verwendung von Glyphosat schädlich für den Menschen? In Wahrheit sei es ein Versäumnis von Politik und Gesellschaft gewesen, die Diskussion auf sachlicher Ebene zu führen. "Braucht man diese Chemikalien? Was wären die Vor- und Nachteile, würde man weniger davon einsetzen? Wer trägt die Kosten, und wer hat die Risiken?", stellt Url in den Raum. Die Wissenschaft sei jedoch bei der teils bizarren Debatte, die im Endeffekt um viele Themen, von Globalisierung über Gentechnik bis hin zu Monsanto und das Verhältnis von multinationalen Konzernen zu kleinstrukturierter Landwirtschaft gekreist sei - unter die Räder gekommen.

Url: "Unser Anspruch wäre es, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments ein wissenschaftliches Ergebnis, das transparent zustande gekommen ist, akzeptieren und dem Prozess vertrauen - auch wenn ihnen das Ergebnis ideologisch vielleicht nicht zusagt. Da wollen wir hinkommen, und diesen Zustand haben wir im Augenblick nicht."

Betrug mit Lebensmitteln

Trotz aller Anstrengungen und trotz der Exporterfolge der europäischen Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft gibt es immer wieder Zwischenfälle und lebensmittelbedingte Infektionskrankheiten. Hier müsse man auf das gestiegene Faktum des Betrugs hinweisen, meint Url. "Pferde- statt Rindfleisch in der Lasagne, Fipronil - hier sprechen wir von betrügerischem Handeln." "Food Fraud" lasse sich nie ganz ausmerzen, gibt er sich nüchtern. Trotzdem arbeite die EU daran, die Systeme zu verbessern, um Vorfälle früher zu erkennen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten zu optimieren. So habe es Ende September als Folge des Fipronil-Skandals eine Konferenz gegeben, und entsprechende Initiativen seien bereits auf den Weg gebracht.

Auf einer anderen Ebene spielen sich Hermann zufolge die Täuschung von Konsumenten ab, aber auch enttäuschte Konsumenten-Erwartungen. "Das hat viel mit falschen Vorstellungen über die Lebensmittelproduktion und Herkunftsfragen zu tun." Dabei ginge es aber nicht um gesundheitsgefährdende Fragen. An Bedeutung gewinne der Täuschungsschutz: "Die Zusammensetzung von Lebensmitteln und Werbebotschaften werden heute viel genauer überprüft als noch vor wenigen Jahren", unterstreicht Hermann.

Vielschichtigkeit der Fragestellungen nimmt zu

Insgesamt werden die wissenschaftlichen Fragestellungen zunehmend komplexer. "Unsere Analysemethoden werden besser, aber auch der Schutzanspruch wird größer - und wir wollen Risiken nicht nur für Menschen, Tiere oder Pflanzen, sondern für das ganze Ökosystem bewerten", so Url. Neben der umweltbezogenen Risikobewertung ist auch die Frage der Cocktail-Effekte eine künftige Herausforderung. "Wir sind als Verbraucher mehreren Chemikalien ausgesetzt. Wie wirken die gemeinsam auf den Organismus? Das ist eine wissenschaftlich extrem herausfordernde Aufgabenstellung, an der wir seit vielen Jahren arbeiten", erklärt der Experte. Hier gebe es im Bereich Pflanzenschutzmittel nun erste Ergebnisse.

Weitere Schwerpunkte bleiben Nanotechnologie, aber auch Pflanzengesundheit, forciert durch den zunehmenden weltweiten Handel von Pflanzen und Pflanzgut und seine Begleiterscheinungen wie invasive Arten. "Eine ganz große, globale, öffentliche Gesundheitsherausforderung ist die Antibiotikaresistenz", so Url. Im Bereich Tiergesundheit sehen sich die Experten mit neuen Tierseuchen konfrontiert - aber auch mit alten, die über die Türkei nach Europa kommen. Denn deren Verbreitung erfolgt nicht nur über den globalisierten Handel, sondern ist leider auch eine Folge von kriegerischen Konflikten und Fluchtbewegungen. Diese alten Seuchen haben in Griechenland und am Balkan enorme Schäden in der Rinderwirtschaft angerichtet. Url: "Wir sind auf vielen Ebenen gefordert."

Eine gewichtige Rolle bei der künftigen Bewertung von Risiken wird beiden Experten zufolge die Digitalisierung spielen. "Wir müssen Methoden und Rechenmodelle entwickeln, die uns Risiken abschätzen lassen, die wir noch gar nicht kennen. Auch die Datenauswertung aus verfügbaren Studien muss digitalisiert werden", betont Hermann.

Nicht zuletzt stellt laut Url der Überfluss an Daten - "Big Data" auf der einen Seite, der Mangel an sicherheitsrelevanten Daten auf der anderen Seite, eine Herausforderung dar. "Die europäische Forschungspolitik orientiert sich an den Bereichen wettbewerbsfähiges, innovatives Europa, Smart Cities, Elektromobilität - was ja auch gut ist." Aber sicherheitsrelevante Forschung werde weniger finanziert, und so würden oft Daten fehlen, um zu einer Risikobewertung zu gelangen. "Um mit der Industrie und Innovationen Schritt zu halten, braucht es allerdings die richtigen Daten zur richtigen Zeit", meint Url.

(APA/red, Foto: APA/AGES/APA-Fotoserv./Hörmandinger)

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