"Das Zeitalter des Zorns": Pankaj Mishra analysiert die Gegenwart

18. Juli 2017 - 14:10

Es scheint das Buch unserer Tage zu sein: "Das Zeitalter des Zorns - Eine Geschichte der Gegenwart" des britisch-indischen Intellektuellen Pankaj Mishra. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem nordindischen Dorf am Himalaya. Das seit kurzem auch auf Deutsch erhältliche Sachbuch des 1969 geborenen Weltbürgers steht bereits auf Platz eins der "Spiegel"-Bestsellerliste.

Autor sieht sich als "Stiefkind des Westens"
Autor sieht sich als "Stiefkind des Westens"

Der Titel des Werks zur weltpolitischen Lage hätte das Zeug zum geflügelten Wort zu werden, ähnlich wie frühere Zeitgeisterkundungen à la "Das Ende der Geschichte" von Francis Fukuyama oder "Kampf der Kulturen" von Samuel Huntington. Ähnlich wie einst Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem Jahrhundertbuch "Dialektik der Aufklärung", das während des Zweiten Weltkriegs im Angesicht des Faschismus entstand, analysiert Mishra einen in der Aufklärung von Anfang an angelegten Selbstzerstörungsprozess.

Um was genau geht es dem Autoren? Sehr belesen wendet sich Mishra, der 2014 für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung bekam, gegen das weit verbreitete Erklärungsmuster, zornige junge Terroristen hätten in erster Linie etwas mit Religion zu tun, vor allem mit dem unaufgeklärten Islam, der Hass der Islamisten stehe also der westlichen Freiheit und offenen Gesellschaft gegenüber.

Religion für Terrorismus nur Deckmantel

Mishra, der sich selber als "Stiefkind des Westens" bezeichnet, findet das irreführend und möchte dieses Gefühl als bloßen Überlegenheitsanspruch der liberalen Demokratien entlarven. Die "Achsen religiös/weltlich, mittelalterlich/modern und spirituell/materialistisch" seien viel zu simpel. Ihm geht es darum, zu zeigen, dass Terrorismus eine lange Geschichte hat, in der Religion eigentlich keine Rolle spiele, höchstens als Deckmantel.

Stattdessen gebe es seit Jahrhunderten immer wieder junge Männer in ausweglosen Verhältnissen, die versuchten, Zorn (also empfundenes Unrecht) zu kanalisieren und mit aufsehenerregender Gewalt und Zerstörungswut zu überwinden. Menschen aller Religionen und Nationalitäten benutzten demnach Terror, um Ziele zu erreichen oder um ihre Verachtung zu zeigen für die Gesellschaft, in der sie leben.

Terroristen gehörten meist nicht zu den Ärmsten der Armen, sondern seien oft gebildete junge Leute, die jedoch oft arbeitslos und orientierungslos seien. Sie behaupteten dann in ihrem Hass auf angebliche Nutznießer der Moderne, sie seien allen anderen überlegen.

Hier will Mishra auch die Wesensverwandtschaft zu Denkweisen in den USA und Großbritannien aufzeigen: "Donald Trump führte einen Aufstand wütender weißer Nationalisten an, die das Gefühl hatten, von globalisierten Liberalen betrogen zu werden. Ein ähnlicher Hass auf Londoner Technokraten und Kosmopoliten führte zum Brexit-Votum."

Um all dies zu analysieren, verliert sich Mishra dann jedoch - oft durchaus erhellend und faszinierend geschrieben - in einem Blick zurück in die vergangenen drei Jahrhunderte. Bereits in den Anfängen der Aufklärung im 18. Jahrhundert waren seines Erachtens nach Verlierer der gesellschaftlichen Veränderung anfällig für Demagogen, später bekanntlich in Deutschland, Russland oder postkolonialen Nationalstaaten sowieso.

Kronzeuge für Mishras Kritik der Moderne wird der Philosoph Jean-Jacques Rousseau als Gegenspieler von Voltaire: "Rousseau spürte als einer der Ersten, dass eine Macht, der es an theologischer oder transzendenter Autorität fehlte und die als Macht über konkurrierende Individuen verstanden wurde, von Haus aus instabil war." Voltaire dagegen paktierte trotz Kritik an Kirche, Absolutismus und Feudalherrschaft mit brutalen, vorgeblich modernen Monarchen wie Preußens Friedrich dem Großen oder Zarin Katharina der Großen.

Soziale Gleichheit nur formal

Und heute? Im Diskurs weltweit herrscht oft das Ressentiment, wie Mishra meint, digitale Medien verstärkten den menschlichen Hang, das eigene Leben mit dem Leben der scheinbar Glücklichen zu vergleichen. Vielerorts herrsche zwar formal soziale Gleichheit, aber de facto gebe es gewaltige Unterschiede an Macht, Bildung, Vermögen und sozialem Status.

Viele fühlten sich von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen: "Die seit der Aufklärung von kosmopolitischen Eliten angestrebte Welt gegenseitiger Toleranz existiert nur in wenigen Metropolen und Universitätsstädten, und selbst diese wenigen Räume schrumpfen. Die Welt im Allgemeinen - von den Vereinigten Staaten bis Indien - verfolgt eine erbitterte Identitätspolitik, die sich auf historische Verletzungen und Angst vor inneren wie äußeren Feinden stützt."

Der Erkenntnisgewinn des Bestsellers: Die Lage ist komplizierter als viele Politiker und Publizisten uns glauben machen wollen. Es reiche nicht aus, zu fragen "Warum hassen sie uns?". Klug kommt Mishra zu dem Fazit "Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst". Seine Handlungsanweisung bleibt jedoch wenig konkret: "Wir müssen unsere eigene Rolle innerhalb einer Kultur überprüfen, die unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus fördert. Es ist notwendig, eine Welt ohne moralische Gewissheiten und metaphysische Garantien nicht nur zu interpretieren, damit die Zukunft nicht so grauenvoll wird. Vor allem müssen wir intensiver nachdenken über unsere eigene Verwicklung in alltägliche Formen der Gewalt und Enteignung und über unsere Gefühllosigkeit angesichts des allenthalben zu beobachtenden Leids."

Service: Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns - Eine Geschichte der Gegenwart", aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff, S. Fischer, 416 S., Euro 24,70

(APA/red, Foto: APA/APA (dpa))

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