24-Stunden-Pflege - Forscher sehen Alternative in Wohngemeinschaften

10. Mai 2021 - 10:41

Mit der Organisation der "24-Stunden-Betreuung", die meist von agenturvermittelten Betreuungskräften aus dem Ausland geleistet wird, tun sich Österreich, Deutschland und die Schweiz ähnlich schwer. Das zeigt ein Forschungsprojekt. Passt das Arrangement für alle Beteiligten, ist dies oft ein "Glücksfall", so die Forscher, die auch ein "problematisches System" mit Hang zur Ausbeutung sehen. Abhilfe könnten Wohn-Pflege-Gemeinschaften oder mehr mobile Pflege schaffen.

Pflegekräfte sind in Österreich sozialversichert
Pflegekräfte sind in Österreich sozialversichert

Dass es in zunehmend alternden Gesellschaften und unter dem Idealbild, so lange wie irgendmöglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben, schwierig ist, flächendeckend qualitätvolle Betreuung und Pflege anzubieten, liegt auf der Hand. Der Umgang damit bereitet tatsächlich vielen Industriestaaten Probleme, wie Brigitte Aulenbacher von der Universität Linz im Gespräch mit der APA einräumte. Sie leitet zusammen mit Helma Lutz von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Karin Schwiter von der Universität Zürich das u.a. vom Wissenschaftsfonds FWF unterstütze, länderübergreifende Projekt. Echte Best-Practice-Beispiele, wie das Modell "Buurtzorg" in den Niederlanden, das trotz auch kritischer Stimmen mit seinen flachen Hierarchien und nachbarschaftlichen Strukturen international Nachahmer gefunden hat, seien rar und oft eher von zivilgesellschaftlichen Initiativen getragen.

Unterschiedliche Zugange

Hierzulande sind über 900 Agenturen und rund 60.000 selbstständige Personenbetreuerinnen und -betreuer, die meist zwei- bis vierwochenweise mit den Betreuungs- und Pflegebedürftigen zusammenleben, in der Wirtschaftskammer vertreten, heißt es in einer Aussendung des FWF. Die Pflegekräfte sind in Österreich sozialversichert. Bei der Entlohnung reden jedoch auch die Agenturen indirekt ein großes Wort mit, indem sie ihre Leistungen zu bestimmten Preisen anbieten. In der Schweiz - wo es keine sozialstaatliche Förderung der 24-Stunden-Betreuung gibt - sind Betreuungskräfte bei den Vermittlungsagenturen oder in den Haushalten angestellt.

In Deutschland greift man gar auf drei Systeme zurück. Neben dem Angestellten- und Selbstständigenmodell ist dies hauptsächlich eine Konstruktion mit großteils aus Polen entsendeten Betreuungskräften. Hier befinde man sich manchmal in rechtlichen Graubereichen. Interessant sei, dass etwa in Deutschland und der Schweiz das österreichische System von Vermittlungsagenturen oft als Vorbild angesehen wird. In Österreich wiederum wird das Angestelltenverhältnis von Interessenorganisationen der Betreuungskräfte als Alternative gesehen und gelten manche in der Schweiz errungene Arbeitsbedingungen als beispielhaft, so Aulenbacher.

Stimmt die Chemie?

Trotz verschiedenster Zugänge ist offenbar kaum jemand ganz zufrieden mit den Status quo in allen drei Ländern. "Wir haben ein ganz großes Problembewusstsein in dem Feld gefunden", so die Soziologin, die mit ihrem Team mit Vertretern aller Beteiligten gesprochen hat. Wie ein roter Faden durch die auch teilnehmende Forschungsarbeit zog sich der Befund, dass alles davon abhängt, ob zwischen Betreuerinnen, Betreuten und Angehörigen "die Chemie stimmt oder nicht", sagte Aulenbacher.

So wünschen sich die Familien eine oft recht anspruchslose, quasi "passende" Pflegekraft. Die meist migrantischen Betreuerinnen wünschen sich eine metaphorische "gute Familie", in der sie gut und unter Anerkennung ihrer Leistung arbeiten können, und wo ihnen auch die nötigen Pausen eingeräumt werden. Die Agenturen sehen oft einen starken Preiskampf im Feld.

Stimmt die Chemie nicht, fühlen sich die Angehörigen oft von den Agenturen enttäuscht, die Betreuungskräfte sehen sich vielfach mit Ausnutzung seitens der Familien oder der Agenturen konfrontiert, und die Agenturen berichten von überzogenen Erwartungen, die an sie herangetragen werden. Oft wählen Angehörige nach schlechten Erfahrungen mit niedrigpreisigen Agenturen dann doch hochpreisigere Anbieter, die auch eine Mediatorfunktion einnehmen, wenn es eben nicht passt. Viele der Betreuungskräfte würden bei anderen wirtschaftlichen Alternativen in ihrem Herkunftsland auch etwas anders machen. Kaum jemand komme unter den Umständen wirklich freiwillig nach Österreich. Überforderung finde man insgesamt an vielen Stellen im oft recht "informell" funktionierenden System.

Renaissance des betreuten Wohnens

Ideen zu Verbesserung gibt es daher einige: So werden in Deutschland Wohn-Pflege-Gemeinschaften erprobt. Auch in Österreich wird über derartige Wohngemeinschaften nachgedacht. Überall ein Thema seien Modelle von regional organisierten, gemeinschaftlichen Betreuungsformen. In Österreich würde das betreute Wohnen gerade wiederentdeckt, so die Forscherin: "Überall gibt es aber auch Pros und Contras", wenn etwa eigentliche Aufgaben des Wohlfahrtsstaates in das zivilgesellschaftliche Engagement verlagert werden.

Eine Renaissance erfahren auch Ideen, die die Handhabe von Betreuung und Pflege wieder in Richtung Gemeinde und Städte legen wollen. Das steht unter dem Stichwort "Community Nursing" auch im Regierungsprogramm. Hier wurden allerdings seit den 1970er Jahren Infrastrukturen eher ab- als ausgebaut, die es für solche Betreuungsnetzwerke bräuchte, gibt Aulenbacher zu bedenken. Insgesamt gebe Österreich bei seinen Pflegereform-Plänen der häuslichen den Vorrang vor der mobilen und stationären Betreuung und Pflege.

Möchte man das bestehende Live-in-System verbessern, kann sich Aulenbacher vorstellen, mehr Auflagen zu den Arbeitsbedingungen der Betreuungskräfte für den Erhalt der staatlichen Förderung einzuführen. Abseits dieser Herangehensweise könnten der Ausbau mobiler Dienste und mehr Krankenpflegepersonal in Gemeinden in Österreich Erleichterung bringen. In betreuten Wohngemeinschaften mit mehreren Bewohnern und Betreuungs- und Pflegekräften lasse sich überdies der Druck reduzieren, wenn die viel zitierte "Chemie" zwischen zwei oft isoliert miteinander lebenden Personen nicht stimmt.

Service: Publikationen zum Forschungsprojekt: http://go.apa.at/CIra0mta, http://dx.doi.org/10.18753/2297-8224-160, http://doi.org/10.31389/jltc.51

(APA/red, Foto: APA)

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