Suchtkranke werden stigmatisiert und benachteiligt

23. Mai 2017 - 10:25

Opiatabhängige sind chronisch schwer krank. Eine im Vergleich zu Patienten mit anderen schweren und unheilbaren Erkrankungen "verrückte" Sichtweise von Medizin und Gesellschaft stigmatisiert und benachteiligt die Betroffenen. Das verringert auch den Erfolg der Therapie, hieß es bei den Österreichischen Ärztetagen in Grado (bis 27. Mai).

Substitution: Ziel ist Erhaltung der Gesundheit, nicht primär Abstinenz
Substitution: Ziel ist Erhaltung der Gesundheit, nicht primär Abstinenz

"Sucht ist eine schwere chronische Erkrankung mit einem hohen Anteil komorbider (zusätzlich vorhandener; Anm.) Störungen und einer hohen Mortalität", stellte der Tiroler Psychiater Ekkehard Madlung-Kratzer (KH Hall) fest. Während die Medizin aber bei ähnlich chronischen "körperlichen" Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma überhaupt kein Problem damit hat, Betroffene so zu behandeln, dass die Lebensqualität möglichst gut bleibt und Komplikationen bei weiterhin bestehender Krankheit ausbleiben, verhielt und verhalte sie sich zum Teil bei Abhängigkeit noch immer anders.

Nicht Heilung, sondern Erhaltung der Gesundheit als Ziel

"Niemand würde bei Bluthochdruck daran denken, nach einem halben Jahr die Therapie zu beenden. Bei der Suchtkrankheit ist es aber nach wie vor so, dass Menschen auf Entzug 'geschickt' werden", sagte der Experte. "Es geht aber nicht um Heilung, weil Sucht eine chronische Erkrankung ist." Ziel jeglicher Behandlung sei die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit und nicht primär Abstinenz. Bereits 1986 hätte das US-Drogenforschungsinstitut NIDA festgestellt: "Das erwünschte Ziel einer Erholung ist eine Situation, in der Drogenmissbrauch und damit verbundenes Verhalten für das Leben des Betroffenen keine Problematik mehr darstellt."

Jahrzehntelang verlangten aber Medizin und eine in Suchtfragen moralisierende Gesellschaft in stigmatisierender Weise selbst von den schwerstkranken Opiatabhängigen, dass sie gefälligst "clean" werden müssten. "Dabei erreichen abstinenz-orientierte Therapien nur einen kleinen Teil der Abhängigen - ein bis zehn Prozent. 40 bis 70 Prozent der Suchtkranken brechen eine abstinenzorientierte Therapie ab. Nach einer solchen Therapie bleibt nur eine Minderheit längerfristig abstinent.

Die Konsequenzen solcher Denkweisen sind verheerend. Keine Behandlungsstrategie kann wirken, wenn sie nicht bei den Patienten ankommt. Es gehe also darum, möglichst viele Opiatabhängige zu stabilisieren, ihre physische, psychische und soziale Situation zu verbessern und vor allem mit einer Substitutionstherapie und anderen Maßnahmen den Drogenkonsum möglichst ungefährlich zu machen, betonte Madlung-Kratzer. "Wir haben in Österreich rund 50 Prozent der Opiatabhängigen (insgesamt um 30.000 Betroffene; Anm.) in Behandlung. Man hat aber in der Suchttherapie das Gefühl, dass wir sehr viel Energie aufwenden, um einen großen Teil der Patienten abzuhalten." Das liege an Restriktionen, für die Betroffenen nicht einhaltbaren Regelungen bezüglich der Einnahme bzw. Abgabe der Drogenersatzmedikamente etc.

Zahlreiche Studien belegen Erfolg

Dabei sind die Erfolge der Drogenersatztherapie - vor allem wegen des ständigen Rechtfertigungsdrucks für solche Strategien in der Gesellschaft - international durch zahlreiche Studien belegt. Der Experte nannte dazu Zahlen: Die jährliche Sterberate von Patienten mit problematischem Opiatkonsum (Injektion von Heroin, Gefahr des Mischkonsums etc.) liegt bei ein bis zwei Prozent. Sie ist 13 Mal höher als die Sterbequote der Allgemeinbevölkerung. Die Mortalität von Opiatabhängigen in Behandlung ist 3,9 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Sterblichkeit solcher Patienten ohne Therapie ist 21,4 Mal höher als sonst.

"In der somatischen Medizin (physische Erkrankungen; Anm.) würde das als höchst effiziente Therapiemethode anerkannt werden", sagte der Psychiater. Die "Entzugstherapie" habe sich in Studien als schädlicher als ihr vorzeitiger Abbruch herausgestellt: "Patienten, welche es 'erfolgreich' geschafft hatten, eine Entzugstherapie abzubrechen, hatten eine höhere Überlebensrate als jene, welche die Therapie 'erfolgreich' beendet hatten." Mit allen verfügbaren Anstrengungen hätten er und sein Team es 1997 und in der Zeit bis zur Etablierung der Substitutionstherapie geschafft, dass 60 Prozent der Patienten opiatfrei entlassen werden konnten. "Aber alle kamen nach ein paar Monaten wieder."

Spritzentausch mangelhaft

In der Betreuung von Opiatabhängigen sollten - neben der Substitutionstherapie - zusätzliche schadensreduzierende Maßnahmen eine wesentliche Rolle einnehmen. Dazu gehören beispielsweise flächendeckend funktionierende Spritzentauschprogramme, um HIV- und Hepatitis C- und Hepatitis B-Infektionen zu vermeiden.

"Spritzentausch ist ein Erfolg", sagte der Tiroler Psychiater Ekkehard Madlung-Kratzer. Von ehemals an die 20 Prozent HIV-Infizierten unter den i.v.-Drogenabhängigen (injizierender Konsum; Anm.) seit diese Rate auf "Null-Komma-Irgendetwas" gesunken. Weiterhin hoch ist die Verbreitung von Hepatitis C und Hepatitis B.

Doch gerade bei den Spritzentauschprogrammen gibt es in Österreich schwere Defizite. In den Gefängnissen wird zwar eine Opiat-Substitutionstherapie angeboten, doch dort existiert keine Möglichkeit, legal an steriles Injektionsbesteck heranzukommen. "In der Justizanstalt Innsbruck kostet eine saubere Nadel bzw. ein sauberes Spritzenbesteck 50 Euro (Schwarzmarktpreis; Anm.)", sagte der Psychiater mit Verweis auf eine Information von der Anstaltsleitung. Laut Daten aus Deutschland würden aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen weiterhin intravenös Drogen injizieren. Hier ignoriert die Justiz offenbar ein großes Problem, obwohl jeder Häftling laut allen Grundrechten genau so gute Behandlungschancen für gesundheitliche Probleme haben müsse wie jeder andere Mensch.

Der Beauftragte für Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, Hans Haltmayer, hat vergangenes Jahr gegenüber der APA festgestellt, dass solche Spritzentauschprogramme vor allem in Ballungszentren funktionierten, zum Beispiel in Wien: "Die Rücklaufquote (bei gebrauchten Spritzen; Anm.) beträgt 98 Prozent." Flächendeckend sind solche Aktivitäten aber längst nicht.

Eine weitere wichtige Aufgabe ist es, die Sterblichkeit bei Abhängigen zu verringern, die sich vor allem aus Opiat-Überdosierungen ergibt. 2014 gab es in Österreich mit 122 Todesfällen, die direkt mit Suchtgiftkonsum in Verbindung gestanden sind, ein Minimum (2009 zum Beispiel 206 Todesfälle). Im Jahr 2015 wurden allerdings wieder 153 "Drogentote" registriert.

Pilotprojekt soll Überdosis verhindern

Auf diesem Gebiet ist laut dem Tiroler Experten in Graz ein Pilotprojekt geplant, bei dem das Heroin-Antidot Naloxon angeboten werden soll. International gibt es verschiedene Projekte, bei denen in der Gruppe der Opiatabhängigen Naloxon-Nasenspray verteilt wird. Auch Angehörige von Abhängigen erhalten dieses Medikament, das nach Verabbreichung sehr schnell die Wirkung zum Beispiel einer Heroin-Überdosis verhindert.

Naloxon besetzt die Rezeptoren im Gehirn, auf die Opiate wirken, und hebt deren Effekt auf. Die Substanz gibt es zur intravenösen Gabe, zur intramuskulären Injektion und - neuerdings in den USA - auch als Nasenspray, was die Anwendung einfacher macht. Lokale Projekte existieren bereits in Deutschland, Dänemark, Estland, Norwegen und Irland. Landesweit existieren solche "Naloxon-Take-Home"-Programme in Schottland und Wales. In Österreich wäre ein solches Vorgehen laut Experten ebenfalls leicht möglich. Naloxon ist kein Suchtmittel und könnte einfach verschrieben werden. Wichtig wäre es aber, eine Versorgung von Opiatabhängigen mit dem Medikament für den Notfall und deren Schulung sicherzustellen.

In Europa gibt es jährlich zwischen 6.500 und 8.000 Drogentote. Vermutlich wird ihre Zahl sehr stark unterschätzt. Die Drogentoten sind zu 22 Prozent Frauen, zu 78 Prozent Männer. Das Durchschnittsalter beträgt rund 37 Jahre. Insgesamt haben in Europa rund 1,4 Millionen Menschen mit problematischem Drogenkonsum. Todesfälle bei diesen Patienten treten zum überwiegendsten Teil durch Opiat-Überdosierung mit Atemlähmung auf. Am häufigsten sind Abhängige mit Mischkonsum (auch Alkohol, Benzodiazepine) betroffen. Durchschnittlich sterben in Europa 16 Menschen pro einer Million Einwohner und Jahr an einer Suchtgift-Überdosierung. Österreich liegt in der Statistik über diesem Durchschnitt.

(APA/red, Foto: APA/APA (Hochmuth))

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