Forum Alpbach: Bürgerrechte und Gesundheitsdaten

22. August 2016 - 10:40

Milliarden gesundheitsrelevante Daten des Einzelnen sollen in Zukunft zu einer "Wolke" für eine verbesserte Gesundheitsversorgung zusammengeführt werden. "Nützt das dem Individuum und der Gesellschaft?", lautete die Frage, die bei der Eröffnung der Alpbacher Gesundheitsgespräche gestellt wurde.

Das Europäische Forum Alpbach steht in diesem Jahr unter dem Generalthema "Neue Aufklärung". Die Vizepräsidentin des Forums, Ursula Schmidt-Erfurth, betonte, dass "Aufklärung" in der Medizin besondere Bedeutung habe. Ohne umfassende Aufklärung des Patienten durch den Arzt und die informierte Einwilligung durch den Patienten kommt nämlich kein Behandlungsvertrag zustande.

Freilich, abseits des Gedankens der "Aufklärung" des 18. Jahrhunderts mit der Etablierung der Bürger- und Menschenrechte ist es zweifelhaft, ob im Gesundheitswesen immer "Erleuchtung", die andere mögliche Übersetzung des englischen "Enlightenment", herrscht. Die Möglichkeit, jemandem ein hohes (Krankheits-)Risiko zu attestieren, sei schon fast selbst zu einer Krankheit geworden. Würde man immer wieder reduzierten Höchstwerten bei den "erlaubten" Blutfettwerten folgen, müssten exorbitante Geldmittel im Gesundheitswesen für die entsprechenden Medikamente aufgewendet werden, konstatierte Schmidt-Erfurth. Der Self-Tracking- und Selbst-Optimierungsmarkt würde bald 6,3 Milliarden Euro-Umsatzvolumen haben. Und schließlich sei die Frage, ob diese "Demokratisierung" von gesundheitsrelevanten Daten und Aktionen nicht letztlich der hemmungslosen Privatisierung des Gesundheitswesens diene.

Individuum im Zentrum der Medizin

Leroy Hood, seit Jahrzehnten in der Genom-Forschungslandschaft tätig und Gründer der Systembiologie in Seattle in den USA, ist ein Verfechter der neuen Gesundheits- und Medizinlehre unter Verwendung aller nur möglichen Daten. Ehemals hat er an der Entwicklung der automatisierten Gen-Sequenziermaschinen federführend mitgearbeitet. "Wir werden die P4-Medizin und eine umfassende Gesundheitsversorgung haben: prädiktiv, präventiv, personalisiert und partizipativ. Diese Medizin wird proaktiv statt reaktiv, individualisiert statt auf Gruppenbasis funktionieren. Sie wird auf wissenschaftlich basierte Wellness statt auf Krankheit ausgerichtet sein", sagte er. Klinische Studien würden anhand der "Daten-Wolke" des Einzelnen statt an Gruppen durchgeführt werden. Nicht ein "durchschnittlicher" Patient, sondern das Individuum werde im Zentrum dieser Medizin stehen.

Dazu sollen die kompletten Genom-Daten des Einzelnen, regelmäßige Blut- und Laborbefunde und schließlich das kontinuierliche "Self-Tracking" des Einzelnen über Fitness-Armbänder etc. beitragen. Eine wohl faszinierende Aussicht, die Hood vorstellte: "Wir wollen den frühestmöglichen Übergangs-Zeitpunkt (von Gesundheit zu Krankheit; Anm.) erkennen und dann schon die Entwicklung umkehren oder stabil halten."

Entsprechende Forschungsprojekte mit namhaften US-Partnern liefen bereits. Hood: "Wer heute geboren wird, hat zu 50 Prozent die Chance hundert Jahre alt zu werden. Die Frage ist, wie er die letzten 30 Jahre verbringt." Er glaube, mit seinem System schwere chronische Krankheit soweit hinauszögern zu können, bis der Mensch an Gesamt-Systemversagen sterbe - aber mit hundert.

"Typen" aus DNA konstruierbar

Beklemmend sind die Aussichten, welche die US-Künstlerin Heather Dewy-Hagborg darstellte. Der Mensch ist mit seinen DNA-Spuren überall auffindbar, reproduzierbar. Dewy-Hagborg durchstreifte New York City auf der Suche nach DNA-Material. Ein weggeworfener Kaugummi, Speichelreste an einem Papp-Kaffetrinkbecher etc. Durch Integration der modernsten Erkenntnisse der Genforschung kam sie dazu, Porträt-Masken aus dem 3D-Printer mit den Charakteristika aus dem Genom zu produzieren. Das ging so weit, dass sie das auch für die zu 35 Jahren Haft verurteilten US-Whistleblowerin Chelsea Manning tat, die ja im Gefängnis "unsichtbar" gehalten wird.

Das Beunruhigende: "Mit 'Snapshot Prediction Results' gibt es ein Unternehmen, das Gesichtsrekonstruktionen bereits für Polizeibehörden durchführt", berichtete die Künstlerin. Und die liefen alle in Richtung Klassifikation und Typisierung nach Aussehen, Rasse, Geschlecht. Die Antwort der engagierten Kritikerin dieser Aktivitäten: Sie entwickelte zwei Kits, mit denen man die ständige Verfolgbarkeit via DNA beenden könnte. Ein Spray für harte Oberflächen zum Beseitigen von Spuren und der zweite mit DNA zur Vernebelungstaktik.

"Aber woher kommt dann wieder die DNA, die ich da verwende?", fragte sich Heather Dewey-Hagborg. Ihre Antwort: "Mittlerweile stehen wir alle schon zum Verkauf (von Genomdaten etc.; Anm.)." Der Präsident des Verbandes der pharmazeutischen Industrie Österreichs (Pharmig), Martin Munte, betonte jedenfalls bei der Eröffnung der Alpbacher Gesundheitsgespräche, dass weiterhin der Mensch im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stehen müsse.

Kritisch äußerte sich Calum Mackellar, Forschungsdirektor des Schottischen Rates für humane Bioethik. "Was immer man tut, es muss im Rahmen des internationalen Rechts geschehen", sagte er mit Hinweis auf Menschenrechtskonvention, UNO-Charta und EU-Übereinkünfte. Demnach dürften auch keine Eingriffe in die Keimbahn durchgeführt werden, die allein auf deren Veränderung abziele. "Wenn jemand Gene eines Spermiums oder einer Eizelle 'editiert' und verändert, entsteht nicht das gleiche Lebewesen", betonte er. Aber alle Menschen - egal wie ihre Charakteristika aussehen - haben den Anspruch darauf, gleich in Würde geboren und aufgenommen zu werden.

(APA/red, Bild APA)

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